An der Seite von Ignatus und Favulkos erreichte Dairos im Morgengrauen die ersten Ausläufer Perlhafens, dem politischen Machtzentrum des goldenen Reichs.
Da Ordensritter im Zentrum des königlichen Einflussgebiets zwar geduldet, von Adel und Teilen der Stadtbevölkerung aber nicht geachtet waren, hatten sich die drei Reiter, um unauffällig zu bleiben, in weite Mäntel gehüllt. Es herrschte ein Gedränge auf den Straßen. Händler mit ihren Wägen, Bauern mit Karren voller Obst und Gemüse, Viehzüchter mit Rindern, Schweinen und Gänsen, sowie allerlei andere Reisende verstopften die Tore, die in das Stadtzentrum hineinführten. Die Stadt wimmelte vor Leben und strotzte vor Energie.
Dairos war beeindruckt. Niemals zuvor hatte er der großen Reichsstadt an der Muränenbucht einen Besuch abgestattet. Unzählige Menschen wuselten geschäftig um ihn herum, palaverten ununterbrochen und folgten ihrem Tagwerk. Mit gemischten Gefühlen dachte er an die bevorstehende Begegnung mit dem Großmeister. Er hatte dem Orden zwar den Rücken gekehrt, weil dieser seinen eigenen Werten schon längst nicht mehr folgte, doch die jahrelange Konditionierung in der Akademie Ordon ließ ihm wenig Freiraum. Er war nicht nur den Idealen des Ordens verpflichtet, sondern spürte auch die Knute der Obrigkeit, die er nur mühsam abzuschütteln vermochte.
Die Ereignisse vor einem Jahr hatten ihn innerlich tief zerrissen. Der Orden war ob seiner Ideale alles für ihn gewesen und ausgerechnet bei einer Hexe, Inbegriff abgrundtiefer Verderbtheit, hatte er diese Tugenden wiederentdeckt. Ja, es gab viel zu bedenken und noch mehr zu verarbeiten.
Dabei hatte er Cyriana einiges zu verdanken. Sie hatte ihm nicht nur die Augen darüber geöffnet, wie verfault der Orden im Inneren war, nein, ohne ihr Eingreifen wäre er schon längstens ins jenseitige Reich eingegangen. Dieses Geheimnis trug er weiterhin verborgen bei sich, hatte es niemandem anvertraut und vermutlich erinnerte sich selbst Cyriana nicht mehr daran, dass sie ihm einst als Hebamme das Leben eingehaucht hatte. Damals, als er fast erstickt wäre und sie ihn mit ihrer druidischen Heilkraft gerettet hatte.
Über Jahrhunderte hinweg hatte die Kräuterkundige und frühere Bluthexe im Geheimen als Heilerin in der Gegend um Granitfurt herum gewirkt und unzählige Menschen dem Tod entrissen. Der Ordensabt Tanat zum Weidentor und sein willfähriges Werkzeug Ignatus zum goldenen Turm hatten sie im letzten Jahr hinrichten wollen, um den Schein des ach so reinen und glänzenden Ordens zu wahren. Nur knapp war sie mit dem Leben davongekommen, um dann zunächst Granitfurt vor den Nachtschrecken zu retten und danach den Blutritus zu stoppen, der vielleicht sogar das ganze Reich ausgelöscht hätte.
Auch wenn Cyriana vor achthundert Jahren einen der furchtbarsten Kriege in der Geschichte ausgelöst und Tod und Verderben gesät hatte, so war in seinen Augen ihre Schuld längst gebüßt. Eine Absolution, die der Orden sich erst noch verdienen musste.
Nein, es war ihm unmöglich, in dessen Dienste zurückzukehren. Er sah auf und blickte in Ignatus' Augen. Der Wissenswahrer schien genau zu wissen, welche Gedanken ihn umtrieben. Auch wenn der Gelehrte zuweilen linkisch und harmlos wirkte, so ließ sich der blonde Ritter nicht davon täuschen.
Der Bucklige hatte einen scharfen Verstand und war von einem inneren Ehrgeiz zerfressen, der ihn eines Tages weit nach oben führen konnte ... und dabei viele andere in den Abgrund reißen würde. Keinesfalls durfte er den früheren Wissenswahrer unterschätzen.
»Hängt nicht euren trüben Gedanken nach, Dairos, seht voraus. Der Großmeister vergibt und ihr könnt euch wieder waschen, ohne Angst zu haben, nackt gefangen genommen zu werden.«
Der Bucklige ließ seinen Worten ein hämisches Gelächter folgen.
Dairos sah sich um, nahm die Unruhe der Leute wahr, den Dreck der Straße, den Gestank und das laute Palaver. Nein, so sehr die Größe der Stadt ihn auch beeindruckte, die Menschen lebten in ihrer eigenen Hölle. Hier würde er nie heimisch werden.
DU LIEST GERADE
Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...