»Sehr einladend«, stellte Cyriana ernüchtert fest. Ihre Blicke schweiften über die unruhige See, blieben an den kantigen Felsnadeln hängen, die überall wie Pfeiler aus dem Meer ragten. Auf den Spitzen der Zacken saßen gewaltige Meerharpyien und beobachteten das Spiel der Wellen, suchten geduldig nach Beute. Einige der Biester waren sogar groß genug, um einen Menschen zu packen.
»Bis hierher und nicht weiter«, meldete sich Guus zu Wort und gab einem Matrosen das Zeichen, den Anker zu setzen. Die Drachenkrähe hatte kaum Tiefgang, weshalb sie auch so schnell gewesen war, aber jeder Fuß, der sie näher zum Riff brachte, konnte schon das Ende bedeuten.
Überall unter der Meeresoberfläche spitzten messerscharfe Kanten hervor, bereit jeglichen Rumpf zu filettieren.
»Die machen wir mehr Sorgen.« Valaria deutete auf spinnenartige Kreaturen, die zwischen zwei gewaltigen Pfeilern verschwanden.
»Was ist das?«, wollte Dairos wissen.
Guus gesellte sich zu ihnen und befahl den Matrosen, die Armbrüste zu holen.
»Das sind Seewitwen. Manchmal greifen sie sogar Schiffe an. Aber im Normalfall meiden sie uns.«
Valaria nickte versonnen. »Ihre Heimat liegt viel südlicher von hier. Die Nebelwasser sind voll von Ihnen. Mein Volk bekämpft sie immer und überall, zerstört ihre Kokons, die sie unter Wasser an Korallenbänke binden.«
Lajetan, der sich zurückgezogen hatte, kam aus der Kabine und schaute sich um. »Wir müssen näher heran.«
Guus schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich bin bereits jetzt ein viel zu hohes Risiko eingegangen.«
Gischt umtoste das unförmige Riff, dessen Ausdehnung kaum abzuschätzen war. Dunkle, unheilverkündende Flecken im Wasser zeugten von gefährlichen Untiefen. Ein Gebäude war auf diesem unwirtlichen Eiland nicht auszumachen, doch im Schatten unzähliger Felsnadeln mochte so einiges liegen, was verborgen bleiben wollte. Lajetan dreht sich nach ihr um. »Wenn wir nicht näher herankommen, können wir nicht anlanden. Vielleicht bleibt uns tatsächlich nichts anderes übrig, als auf die Nuark-Qol zu warten.«
»Anlanden?«, Dairos schüttelte den Kopf. »Schaut euch um, Großmeister. Viele der Felszacken sind nicht verbunden, bilden keine zusammenhängende Landmasse.«
Er hatte Recht. Cyriana sah sich suchend um. In diesem labyrinthartigen Felsgewirr etwas aufzustöbern war herausfordernd. Ohne den Weg zu kennen, lief man Gefahr tagelang herumzuirren.
»Wir sind hier richtig.« Valaria deutete auf ein markantes Felszackenpaar, das sich so zueinander bog, dass es einen Kreis beschrieb. »Der Nocturnenbogen dient uns als Anhaltspunkt. In seiner Nähe erhebt sich das Mausoleum.«
Unschlüssig starrte Cyriana nach Norden. Ihr Weg war hier zu Ende. Ohne Hilfe würden sie es nicht bis aufs Riff schaffen. »Ich sehe noch keine Laichfelder.«
»Sind wir sicher, dass sie überhaupt kommen werden?«, erkundigte sich Dairos. »Nach dem schweren Angriff durch den Magierzirkel haben sie vielleicht ihre Pläne geändert.«
Ratlos blickte Cyriana von einem zum anderen. Erwarteten sie etwa von ihr zu hören, wie sich die Nebelsirenen entschieden hatten? Fast hätte sie vorgeschlagen, den Großmeister zu befragen, hatte er doch den Seelenopal, der einen Blick in die Zukunft ermöglichte. Einen Blick jedoch, der teuer erkauft war. Sie schwieg, schlang ihre Arme um sich und wandte sich ab.
»Nun denn, ich werde gehen.« Dairos legte die Rückenscheide mit dem Schwert ab und schälte sich aus seiner Lederweste. Einen Moment zögerte er, doch dann schnürte er die Ordensklinge wieder um. »Brauche ich wohl«, brummte er grimmig.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...