Der Großmeister betrat das Gemach des Königs. Er hatte es für die Zeit, während sie hier in der Kaiserfeste residierten, beansprucht und erwartungsgemäß keinen ernsthaften Widerspruch geerntet.
Es war wichtig, diese Räume zu kontrollieren. Zum einen, weil es das deutliches Zeichen an alle setzte, dass er derjenige war, der entschied, wie es mit dem goldenen Reich weiterging. Zum anderen, weil in diesen Gemächern noch so manches Geheimnis verborgen lag, welches zu finden galt.
Sorgsam, fast schon liebevoll, platzierte er das Kleinod auf dem Tisch und legte seine Hände über den Stein.
Kaum, dass er sich darauf konzentrierte, begann der Opal zu pulsieren und ein schales unwirkliches Leuchten von sich abzugeben. Lajetan schloss die Augenlider.
Nach einiger Zeit erschienen verwirrende Bilder in seinem Geist, verschwammen, setzten sich wieder zusammen. Die Zukunft war nicht in Stein gemeißelt, aber der Großmeister hatte gelernt, dem Sternenopal halbwegs verlässliche Informationen abzuringen.
Er musste wissen, ob dem goldenen Reich Gefahr drohte, entschieden sie sich dazu, abzuwarten. Eine weitere Frage war, wie er mit der Druidin verfahren sollte. Einerseits war sie mächtig und unberechenbar, andererseits, und das wog schwer, gab es niemandem, dem er mehr zutraute, mit den Nocturnen fertig zu werden. Es stand in seiner Macht, sie festzuhalten oder ihr zu erlauben abzureisen. Eines verwarf er aber. Dem Wunsch Ignatus nachzukommen, ihre Spielfigur für immer vom Brett zu nehmen, würde er nicht nachkommen.
Die Zukünfte veränderten sich. Lajetan brach der Schweiß aus, als sich die Bilder in seinen Geist brannten. Die Nutzung eines Sternenopals konnte Ungeübte in den Wahnsinn treiben. Der Umgang galt ohnehin als tückisch, war verboten und kostete den Anwender nicht selten das Leben, brachte zudem das Umfeld in Gefahr.
Es war schwierig, die Wege der Vorsehung zu erkennen. Zumeist bemühte er sich vergeblich, dem Artefakt eine Zukunft abtrotzen, die nicht unmittelbar bevorstand. Aber die letzten Male hatte ihm der Stein gute Dienste geleistet. Nicht nur hatte ihn das magische Schmuckstück vor dem Attentat durch die willenlosen Ordensritter gewarnt, sondern ihm klar aufgezeigt, dass Cyriana nur mit Valaria zusammen die Kaiserfeste zurückerobern konnte. So seltsam dies auch geklungen hatte, so hatte es sich dennoch bewahrheitet.
Immer, wenn er vor schwierigen Entscheidungen stand, hatte er den Sternenopal befragt und zumeist eine klare Antwort erhalten.
Der Stein war es auch gewesen, der ihm geraten hatten nach Cyriana zu suchen, um sie zu bitten, ihn zu unterstützen. Sie war der Schlüssel zur Rückeroberung der Kaiserfeste.
Letztlich blieb es aber ein gewagtes Spiel, den Sternenopal einzusetzen. Manchmal starben in seiner unmittelbaren Nähe Menschen ohne Grund oder wurden zumindest schwer krank. Anfangs hatte er dies als Zufall abgetan, doch mittlerweile gab es keinen Zweifel daran, dass das Artefakt einen Preis für seine Dienste einforderte.
Nun ja, sie starben für den Glanz und die Herrlichkeit des Ordens. Es gab schlechtere Gründe, von dieser Welt zu gehen.
Die Zeit verging träge. Lajetan ließ den Opal nicht mehr los, versetzte sich in ihn, suchte nach dem Strang in die Zukunft, dem Weg der beschritten werden musste.
Das Artefakt wurde heißer, der Schimmer greller, schmerzte in den Augen. Schließlich, nach schier endlosen Minuten, ließ Lajetan ab. Der Glanz des Opals erlosch.
Keuchend und leichenblass lehnte sich der Großmeister zurück. Er hatte zwar etliche Wege in die Zukunft verfolgt, doch keiner verhieß Gutes. Weder für ihn noch für das Reich.
Er ging zu einem goldverzierten Schrank, öffnete ihn und entnahm ihm einen Kelch und einen edlen Weinbrand. Es war unabänderlich. Wenn sie nicht handelten, würde das Reich untergehen und er würde sterben. Leider waren die Bilder unscharf geblieben, hatten ihm nicht verraten, was genau geschehen würde. War er dem Blutritus zum Opfer gefallen?
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...