Aratica in Gefahr

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Obwohl es Zellen am Dryadenturm gab, um genau solche Gefangenen wie Aratica vor ihrem Gerichtstermin zu verwahren, hatte Lord Kajat darauf wohlweislich verzichtet. Er konnte es sich schlichtweg nicht leisten, die widerspenstige Assassine in den öffentlich zugänglichen Zellen zur Schau zu stellen. Der Regent hatte deutlich gemacht, keinen Prozess über die Angelegenheit führen zu wollen. Somit war die Gefangene dort nicht sicher.

Lord Kajat war kein Narr. Er wusste zwar nicht, was gespielt wurde, aber, dass er den Plänen seines Regenten in die Quere kam, war offensichtlich. Einen Moment lang war er versucht gewesen, abzubrechen. Natürlich hatte er damit gerechnet, auf Widerstand zu stoßen, doch geglaubt, er könne sich mit einigen Gefälligkeiten ein wohlmeinendes Urteil erkaufen. Aber um mit Garl IV die Klinge zu kreuzen, fehlte ihm die Courage. Seine Hoffnung auf Reichtum und Macht zerfaserte, wie der Morgennebel im Schein der aufgehenden Sonne.

Sollte er aufgeben? Nachdem sich überraschend Prinz Kendar in die Angelegenheit eingebracht hatte, war alles weiterhin möglich. Natürlich ging es nicht mehr, um seinen Anspruch, sondern nur noch darum, wie man mit Aratica zu verfahren hatte ... und wie der Disput zwischen Vater und Sohn weiterging. Aber so nebenbei mochten durchaus die Beereninseln für ihn abfallen.

Er stand nicht mehr im Fokus und musste sich nicht offen gegen Garl IV positionieren. Einfach laufen lassen ...

Mit einem Seufzer schloss er die Augen, dachte nach. Seitdem er wusste, dass der seit knapp drei Monden gehandelte Seelenwein, welcher für unglaublich hohe Summen verkauft wurde, aus den Weinbergen seines Bruders stammte, verfolgte er nur einen einzigen Gedanken. Er musste in den Besitz des Landguts gelangen. Das Vermögen, das ihn dort erwartete, machte ihn zu einem der reichsten und damit mächtigsten Männer Dryadengrüns.

Seltsam, dass sein Bruder das noch nicht ausgenutzt hatte und zudem nicht am Dryadenturm erschienen war. Aber vermutlich hockte er ängstlich auf seinem Weinberg und wagte es nicht, ihn zu verlassen.

Kein Wunder also, wenn der Herrscher Dryadengrünst, um seine Investitionen zu sichern, einschritt. Natürlich wusste auch Garl IV, aus welchem Weingut der gute Tropfen stammte. Vermutlich hatten sein Bruder und der Regent schon längstens eine Übereinkunft über die Verteilung des Gewinns getroffen.

Allein der Gedanke daran, erneut zu spät zu kommen, ließ ihn bitter aufstoßen. Immer bekam der ältere Bruder alles. Es war ungerecht. Dabei hatte er, als er erfahren hatte, dass Lady Aratica sich am Rande des Schattenwalds versteckt hielt, seine große Stunde kommen gesehen. Wenn sie, die Mörderin seines Vaters bezeugte, dass der Auftrag zur Ermordung von seinem Bruder stammte, so würde dieser all sein Erbe verlieren und ihm zufallen.

Lord Kajat betrat das Zelt, in dem er Lady Aratica verborgen gefangen hielt. Seine Söldner hatten sie an die große Zeltstange im Zentrum gebunden.

Als sie ihn hereinkommen sah, loderten ihre Augen voll grimmiger Wut, aber auch vor irritierender Vorfreude auf. Ein Knebel verhinderte spitzzüngige Worte. Nichtsdestotrotz musste er mit ihr reden.

Er hatte rund um das gemietete Zelt drei Wachen platziert. Der vierte Mann saß unweit des Eingangs und schleifte mit einem Wetzstein seelenruhig sein Schwert. Einen Moment lang zögerte er, als er vor Lady Aratica stand. Die junge Assassine starrte ihn aus unergründlichen Augen an und er gewann das Gefühl, in den Fokus eines unbarmherzigen Raubtiers geraten zu sein. Seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an und er schluckte.

Araticas Hände und Füße hatte man an die große, massive Stange gefesselt, die das Zeltdach hielt. Augenscheinlich war sie wehrlos, ihm ausgeliefert und dennoch raunte ihm unentwegt eine ängstliche Stimme zu, wegzulaufen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie freiwillig bis zum Dryadenturm mitgekommen. Würde er ansonsten mit durchgeschnittener Kehle am Wegesrand liegen? Hatte sie keinen Fluchtversuch unternommen, weil sie die Situation genoss? Konnte das sein? Verrückt genug war sie jedenfalls.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt