»Alle sollen meiner Geschichte lauschen.« Die Nuark-Qol hob ihre Hand und überall auf dem Laichblatt taten sich Spalten auf, die sich wenig später mit Wasser füllten. Vielerlei Köpfe spitzten heraus. Cyriana erkannte unter ihnen Ilortus und seine beiden Schüler.
Die kratzige Stimme des grazilen, dreiäugigen Wesens ließ sie tief in die Vergangenheit zurückreisen. »Am Anfang stand eine zufällige, aber verhängnisvolle Entdeckung. Ein Muscheltaucher hatte am Boden des Meeres, welcher von weitläufigen Korallenriffen bedeckt ist, eine gewaltige, pechschwarze Muschel tief unterhalb des Schlicks entdeckt und freigelegt.«
.. und vor Cyrianas Augen öffnete sich das Tor zu den Tagen, als es begann ...
Der Kopf des Wogenkriegers tauchte am Rand meines Laichblatts auf. »Ehrwürdige Mutter, bitte helft uns, Otan wurde angegriffen. Wir bekommen ihn nicht frei.«
Die verzweifelten Rufe ließen mich sofort handeln. Ich verließ mein Refugium und betrat mit einer Eskorte aus zwei Erdgängern ein benachbartes Blatt, welches wenig später die Außenbereiche der Felder ansteuerte.
Wogenkrieger hatten eine mumifizierte Gestalt auf ein Laichblatt abgelegt und warteten nicht weit davon entfernt. Ohne zu zögern, wechselte ich über und trat an den Körper heran.
»Bleibt vorsichtig, ehrwürdige Mutter und fasst ihn nicht an.«, warnte mich mein Schamane, der soeben neben den Kriegern auftauchte. »Wir können nicht ausschließen, dass Gefahr droht.«
»Was ist geschehen?«
»Muscheltaucher entdeckten tief unter dem Schlick eine riesige, tiefschwarze Muschel. Sie legten sie frei und es gelang sogar, sie aufzustemmen. Doch kaum, geöffnet, strebte ihnen eine quallenartige Kreatur entgegen. Otan stand am nächsten. Das Wesen umschloss ihn mit seinen Nesselfäden, wob ihn ein.«.Ich gab ein Zeichen, woraufhin sich alle zurückzogen, und ging vor der Gestalt auf die Knie, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Zwei Erdgänger standen mit Speeren bereit, sofort einzugreifen, sollte sich das Wesen von seinem Opfer lösen und versuchen auf mich überzuspringen.
Otan war vollends von weißlichen, riemenartigen Bändern eingehüllt. Sie umschlossen Kopf, Rumpf sowie den Fischschwanz. Ich hob die Hand und einer der Erdgänger reichte mir ein Messer.
»Seid achtsam. Das haben wir bereits versucht. Sie ziehen sich zusammen, sobald ihr die Klinge ansetzt ... und ihre Berührung verursacht Schmerzen.«, meldete sich der Schamane.
Ich horchte in mein Inneres, suchte die Geistermagie, die mir Qritonis geschenkt hatte und die so viele Jahre lang brach gelegenen hatte. Nun musste sie mir dienstbar sein, um den Muscheltaucher zu retten. Gleich tastenden Fingern ließ ich meine Magie über den eingehüllten Körper streifen. Es war eigenartig, sie nahm nichts wahr, als ob es die Nesselfäden gar nicht gäbe. Verwirrt hielt ich inne, wog nachdenklich das Messer in der Hand.
Ich sah das quallenartige Geschöpf, seine Tentakel, wie es sein Opfer umschlang ... und dennoch, es war nicht da ... nicht in dieser Welt.
Gerade als ich die Klinge ansetzte, um einen der dünnen Fäden durchzuschneiden, nahm ich eine leise, sanfte Stimme in meinem Kopf wahr.
»Bitte nicht, ihr tötet mich.«
Erstaunt sah ich auf. »Otan?«Eine Weile schwieg die Stimme. »Ja ... und Nein. Ich ... wir sind miteinander verwoben. Ehrwürdige Mutter, wenn ihr die Fäden durchschneidet, werde ich und mein Wirt sterben.«
»Wie kann ich euch trennen.«
»Wir sind eins.«Der aus weißlichen Riemen bestehende Kokon atmete. Darunter geschah etwas. Wellenförmig hob und senkte sich der darunterliegende Körper. Es war gespenstisch. Ich war mir sicher, dass dies nichts Gutes bedeutete. Auch hatte mich die geisterhafte Stimme nicht beruhigt. Im Gegenteil, denn obgleich sie sanft wirkte, so war die Botschaft dennoch eindeutig. Den Muscheltaucher, den ich gekannt hatte, gab es nicht mehr.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...