Das kalte Buch

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Kräftige Hände packten und schoben ihn grob aus dem Weg. Er stolperte, stürzte über seine Beine und knallte vornüber auf den Boden.
»Mach Platz Krüppel«, tönte eine Stimme.
»Sieh mal, er kann ja nicht mal gehen, Bruduin.«
»Kreaturen wie ihm ist das Gehen auf zwei Beinen einfach nicht gegeben, Prisca.« Ein sanftes Kichern antwortete.

Ignatus versuchte aufzustehen, doch sogleich stellte der Zweitgeborene des Königs seinen Stiefel auf seinen verwachsenen Rücken und drückte ihn zu Boden.

»Krieche!«, posaunte Bruduin mit soviel Erhabenheit, wie er aufbrachte, und Prisca von Falkenhain lachte laut auf.

Ihr glockenhelles Lachen schmerzte mehr, als die täglichen Demütigungen des Prinzen ... und jedes Mal, wenn er in ihre leuchtend blauen Augen sah, vergaß er, dass sie weitaus dämonischer als Bruduin war. Dabei wirkte sie wie eine zarte Elfe aus den Mythen des Titanenwalls, so unglaublich schön, anmutig und von einer stillen Eleganz, die Menschen in ihren Bann zu ziehen vermochte.

Erneut versuchte sich Ignatus vom Boden hochzustemmen, doch der Zweitgeborene des Königs stellte sich mit beiden Beinen auf seinen Rücken und balancierte darauf, wie ein Akrobat auf einem Seil mit ausgestreckten Händen.

»Beweg dich nicht Unhold, ich besteige gerade deinen Hügel.« Er lachte. »Bin sicherlich der Erste, der diesen Aufstieg gewagt hat.«

Ignatus schossen Tränen in die Augen. Vor zwei Jahren war er von seinem Onkel fast totgeprügelt worden, weil er mit einem Bogen das Ziel nicht getroffen hatte. Seitdem hatten sämtliche anderen Kinder, die mit ihm auf der Kaiserfeste weilten, ihren Respekt vor ihm verloren und trieben jede Menge erniedrigende Spiele mit ihm. Er wusste, dass er dem Einflussbereich des Königs entfliehen musste, doch seine Mutter war auf dessen Gunst angewiesen. Sie wagte nicht, aufzufallen.

»Vielleicht ist er gar als Reittier brauchbar?«, schlug Prisca vor.
»Stimmt, wenn er sowieso schon am Boden liegt.«

Gerade als Bruduin sich auf ihn setzen wollte, kamen zwei Gestalten den Gang entlang. Ignatus spürte, dass der junge Prinz erstarrte und die spitze Zunge Priscas augenblicklich verstummte.

Er riskierte einen Blick und sah zunächst einen hochaufgeschossenen Mann mit strengen Gesichtszügen, der stehenblieb und mit gerunzelter Stirn ihn, Bruduin und Prisca musterte. Eine zweite, zierliche Person schälte sich aus seinem Schatten hervor. Ignatus starrte in zwei stechend grüne Augen. Er wurde blass.

Die hagere Gestalt wandte sich seiner jungen Begleiterin zu. »Das hier, Aratica, ist der Zweitgeborene des Königs, Bruduin. Er und sein älterer Bruder, der Thronerbe, stehen sich nicht sonderlich nahe.«

Araticas kalter Blick glitt hinüber zu Prisca von Falkenhain. »Und die da?«
Ihr Mentor zuckte die Schulter. »Die Tochter einer vollkommen unwichtigen Adeligenfamilie. Ich weiß gar nicht, mit welchem Recht sie sich hier aufhält. Auf jeden Fall eine von denen, die du vielleicht einst nächtens besuchen darfst.«

Prisca erschrak und wurde leichenblass.

Aratica bückte sich nach vorne, und streckte ihre Hand Ignatus entgegen. »Darf ich dir aufhelfen, Cousin. Hast du irgendwelche Wünsche?«

Ihre Augen irrlichterten im Wahnsinn.

Schweißgebadet erwachte Ignatus und drehte sich in seinem Bett herum. Sein Blick fiel auf die kahle Decke seiner Kammer. Der graue, eintönige Putz beruhigte seinen rasenden Puls. Schließlich wandte er den Blick zum geöffneten Fenster. Raden-Surs goldene Scheibe stieg majestätisch über die grünen Hügel im Osten auf, bannte den morgendlichen Nebel und tauchte alles in leuchtende Farben. Seufzend quälte er sich aus dem Bett. Es war an der Zeit. Tagelang hatte er die verborgene Bibliothek unterhalb seiner Ordensburg nach Hinweisen durchwühlt. Er hatte nichts gefunden, was in irgendeinem Zusammenhang mit dem unscharfen Mann, oder mit den Ereignissen in Perlhafen stand.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt