Das erste Opfer

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Aratica hatte sich selten so gut gefühlt. Trastian war zwar schüchtern, aber überraschte sie ein ums andere Mal mit einem rührigen, fast schon naiven Humor, der sich angenehm von ihrer eigenen verletzenden Spöttelei abhob. Zudem war er erfrischend ehrlich und gutmütig.

Kaum hatte der Geschichtenerzähler seine Legende von den Nebelsirenen mit einer letzten feurigen Flammenlohe beendet, begannen die Spielleute wieder zu musizieren.

Während die kleineren Kinder unter lautem Protest von ihren Eltern zurück in die Hütten gebracht wurden, die Jugendlichen sich scharenweise ins Dunkel absetzten, zeigte Trastian ihr einige Tanzschritte.

»Du bist durchaus geschickt, Aratica«, grinste er sie an.
»Ach ja, Bauernbursche?«
»Ja, ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet. Niemand bewegt sich so wie du. Es ist, als beobachte ich ein Raubtier beim Anschleichen einer Beute.«

Ob er ahnte, wie gut seine Beobachtungsgabe war. Jeder Schritt, jeder Handgriff, ja selbst die Drehung ihres Kopfs, war Ergebnis jahrelangen Trainings ... und ihr längstens in Fleisch und Blut übergegangen.

»Dann sei gewarnt, denn dir ist schon klar, wer meine Beute ist.«

»Allzu gerne. Doch zunächst sollte der Panther in dir die Tanzschritte erlernen«, neckte er sie.

Sie alberten eine ganze Weile herum. Dabei fiel Aratica auf, dass Cyriana wohl schon gegangen war. Es versetzte ihr einen Stich. Die Druidin suchte die Einsamkeit und litt unter ihr.

Fast beiläufig berührte sie die Halskette, die ihr die Kräuterkundige gegeben hatte. Von dem roten Halbedelstein ging ein sanftes Pochen wie von einem Herzschlag aus. Sie erinnerte sich, dass Cyriana ihr erzählt hatte, dass ein Druide einst einen ihrer Lebensfunken gefangen und in dem Kristall gesperrt hatte.

Trastian kam mit zwei Fleischspießen zurück und riss sie aus ihrer Versunkenheit. Gemeinsam schritten sie zum verglimmenden Lagerfeuer und hielten ihre Spieße in die Glut. Doch so sehr sie sich bemühte, die anfängliche Unbeschwertheit kehrte nicht mehr zurück. Sie begann sich Sorgen zu machen. Cyrianas Lebenszweck war es gewesen, über die Menschen am Waldrand zu wachen, sich um sie zu kümmern und zu verhindern, dass Halikarnosa wieder in Besitz der Sonnenscheibe gelangte. Doch was würde nun geschehen?

Der Geschichtenerzähler saß in ihrer Nähe und unterhielt sich mit einigen älteren Jugendlichen, die ihn mit Fragen überhäuften. Sie musste sich ablenken und lauschte seinen Worten. So erfuhr sie, dass nur Bruchstücke der Legende der Nebelsirenen erhalten geblieben waren und sich die Überlieferungen oftmals widersprachen. Zwar ähnelten sich viele der Erzählungen im Kern, doch die Ausschmückungen waren gar vielfältig. Der alte Mann endete mit einem verschwörerischen Blick, der andeuten sollte, dass seine vorgetragene Mär die Wahrheit sei.

Wenn Aratica eines jedoch gelernt hatte, dann, dass Mythen aus vergangenen Tagen selten die tatsächlichen Vorgänge erzählten. Sowohl die Legende der Bluthexe, als auch die vom Hexenstein strotzten nur so vor Halbwahrheiten und Beschönigungen. Krone und Orden hatten das ihre dazu beigetragen, nutzten sie doch die Erzählungen, um ihren eigenen Ruf aufzupolieren.

»Gelten die Nebelsirenen nicht als mystische Geschöpfe, die nie existiert haben?«, fragte sie den alten Mann, als er sich aufrichtete, um wohl zum Ausschank zu gehen.

Er hielt inne, ließ sich wieder zu Boden sinken und zwinkerte ihr vergnügt zu. »Oh, ihr irrt, holde Maid. Sie existieren, halten sich nur in den Weiten der Smaragdsee versteckt, meiden die Küsten.«

»Und warum sollten sie das tun? Haben sie Angst vor uns?«
»Wer weiß das schon. Aber eines Tages werden sie wieder auftauchen.«
»Vage, alter Mann.«
»Vielleicht. Kennt ihr die Schriften Qritonis?«
»Sollte ich? Qritonis ist doch der Erdverschlinger, der einst die Flut entfesselte, die das Land jahrzehntelang bedeckte. Hat er auch einige Bücher geschrieben?«
»Er ist so unglaublich viel mehr, als das, junge Maid.«

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt