Der Abend dämmerte, als Barut-al-Zavid nach wochenlanger Wanderung den Hexenstein erreichte. Müde ließ er sich am Rand der Waldschneise zu Boden sinken. Das rostrote, hüfthohe Gras der Lichtung wog sich in einer leichten Brise. Zwei spitze, rötlich-weiße Felsen ragten im Zentrum der Wiese aus dem Boden, stachen anklagend in den Himmel.
Kein Laut drang an sein Ohr. Dichtes Gebüsch hatte die Überreste des Ballons, mit dem Cyriana, Dairos, Aratica und Kendar vor einem Jahr abgestürzt waren, überwuchert.
Er ließ sich mehrere Minuten Zeit, ehe er sich ein Herz nahm und zu den spitzen Steinen inmitten der Lichtung schritt. Auf halber Strecke passierte er eine mattschwarze Rüstung, in der die Gebeine Goralds von den tiefen Auen weißlich hervorschimmerten. Hier war der einstige legendäre Held und Verräter des Ordens im Kampf gegen Kendar und Dairos gefallen.
Barut blieb stehen und sah sich nach den Überresten Yenravens um. Er suchte eine Weile im näheren Umkreis, bis er fündig wurde. Ein Beutel lag neben ihrem Skelett. Er bückte sich und nahm den Sack mit den Portalsteinen an sich. Einen Moment lang wog er ihn nachdenklich in der Hand. Mit Hilfe der magischen Steine hatte Yenraven Portale erschaffen, die sie an alle möglichen Orte innerhalb des Walds gebracht hatte. Leider waren nur Elementarhexen zu dieser mächtigen Zauberei fähig. Nicht einmal für Cyriana oder einem Erzmagier aus dem Magierzirkel des Königs waren sie brauchbar.
Dennoch. Eine innere Stimme riet ihm, sie mitzunehmen. Er wusste nicht weshalb, aber er vertraute seinem Gefühl. Ohne weiter darüber nachzudenken, verstaute er die Portalsteine im Rucksack und schritt hinüber zum Hexenstein. Im Gras lag die zerborstene Platte, auf die Cyriana den Feuerelementar geschleudert hatte. Durch die Zerstörung der Kultstätte hatten sie Halikarnosas Macht gebrochen. Die archaische Göttin lag seitdem in einer Art verwirrter Trance.
Hatte Cyriana gewusst, dass sie durch ihre Tat Halikarnosa so hart treffen würde? Er hatte lange darüber nachgedacht, weshalb die Zerstörung des altarähnlichen Gebildes die archaische Göttin in Agonie versetzt hatte. Er hatte bislang keine Antwort darauf gefunden. Die Druidin und Bluthexe hütete wohl noch so manches Geheimnis.
Tief in Gedanken versunken kniete sich Barut-al-Zavid neben dem zerbrochenen Hexenstein ins rostrote Gras. Er hielt inne. Konnte es sein? Die Wucht des Aufpralls hatte die Platte entzweigerissen. Doch die Ränder passten nicht zueinander. Er fuhr mit seiner Hand sanft über die Grashalme, betrachtete die herumliegenden Felssplitter. Sie waren frisch, bedeckten die Wiese unterhalb des Steins. Der Wind hatte noch keine Zeit gefunden, sie davonzuwehen.
Hier hatte erst kürzlich irgendjemand Brocken aus der Platte geschlagen und mitgenommen. Aber wozu?
Er erhob sich und begutachtete die Lichtung. Er wusste, dass in der Nähe einige verlassene Hütten lagen, in denen einst Yenraven gelebt hatte. War dort jemand eingezogen und hatte sich an dem Hexenstein zu schaffen gemacht?
Das führte zu nichts. Es gab eine Möglichkeit, um Antworten zu erhalten. Deswegen war er gekommen. Er hielt seine Handfläche über die glatte Oberfläche der zerbrochenen Platte, zögerte aber, sie zu berühren. Keinesfalls wollte er dazu beitragen, eine Halikarnosa wieder zu erwecken. Andererseits deuteten die Anzeichen durchaus darauf hin, dass die Göttin ohnehin aktiv geworden war. Träume suchten Hexen und Druiden heim, töteten diese sogar. Früher war sie oft in die Gedanken der Menschen eingedrungen, um diese zu manipulieren. Hatte sie auch die Macht, diese umzubringen?
Sein Blick fiel auf das rostrote Gras und die darin verstreut liegenden Gesteinssplitter. Hatten die verschwundenen Stücke aus dem Hexenstein etwas damit zu tun?
Barut-al-Zavid hatte die lange Reise nicht auf sich genommen, um nun abzubrechen. Er hatte Fragen. Selbst wenn Halikarnosa nichts mit den Träumen zu tun hatte, so wusste sie vielleicht etwas darüber.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...