Wo ist Cyriana ?

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Kaum war der Turm zusammengebrochen und hatte alles in eine dichte, den Atem raubende Staubschicht gehüllt, herrschte zunächst eine fast unheimliche Stille, so als müsste die Natur erst Luft holen. Von überall her erklangen Schmerzensschreie und Hilferufe.

Aratica erhob sich wackelig. Alle Knochen taten ihr weh. Doch der Nebelsirene war es eindeutig schlechter ergangen. Durch die Drehung in der Luft hatte sie Ribhar unter sich gebracht. Er war zuerst aufgeschlagen und hatte ihren Sturz mit seinem Körper gedämpft.

Nun gut, die Luft war nicht das Revier einer wasserlebenden Spezies. Zum Glück lag daher er und nicht sie leblos auf dem felsenübersäten Boden.

Der Kampf war jedenfalls vorbei und sie musste sich eingestehen, es niemals zuvor mit einem schnelleren und kräftigeren Gegner zu tun gehabt zu haben.

Suchend sah sie sich um. Cyriana war den Turm mit dem Meerelfen hinaufgestürzt. Wenn sie aus dieser Höhe gefallen war, dann konnte sie kaum überlebt haben. Die Hexe war ja nicht einmal in der Lage eine Leiter hinaufzuklettern, wie sollte sie einen Sturz richtig auffangen.

»Cyriana?«, rief sie und drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Der Turm war an anderer Stelle auf den Boden geschlagen. Auf der Seite, an der sie und die Druidin die Treppen hinaufgelaufen waren, lagen nur vergleichsweise wenig Steinquader und Geröll.

Sie beruhigte ihren Atem und wandte sich einmal um ihre Achse. Auch die Kräuterkundige musste in der Nähe herabgestürzt sein. Welche Richtung versprach also die besten Aussichten, sie zu finden?

Sie rief erneut nach der Druidin und verließ den Ort, an dem die Nebelsirene lag.

Vor ihr türmte sich ein Schutthaufen auf. Gerade wollte sie sich abwenden und in eine andere Richtung gehen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Eine weibliche Gestalt, im staubigen Dunst kaum erkennbar, kletterte über einige Steinquader.

»Cyriana?«

Die Silhouette verschwand.

Aus einer anderen Richtung näherten sich Gestalten. Aratica wandte sich um, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Kurz darauf schälte sich Prinz Kendar aus dem Dunst. Er schien erleichtert und grinste sie aufatmend an.

Seltsam, sie hatte nämlich nicht viel für ihn übrig.

Eine kompakte Gestalt mit einem gewaltigen Hammer über der Schulter, dem eine katzengroße Kreatur vorauslief, folgte dem Prinzen. Das war der Schmied, der Cyriana zum Dryadenturm gebracht hatte. So wie sie es verstand, hatte die Druidin ihn bereits ausgezahlt. Was suchte er also noch hier? Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. Selbstlose Hilfe war kein Konzept, welches sie so hinnahm. Vor allem nachdem er erfahren hatte, dass Cyriana mit jener Yenraven identisch war, die vor achthundert Jahren ganze Dörfer niedergebrannt und Familien gnadenlos ausgelöscht hatte.

»Habt ihr meinen Vater gesehen?« Dem jungen Prinzen steckte der Schreck deutlich in den Knochen, blickte er doch verständnislos auf das Chaos um ihn herum. Er humpelte etwas und hielt sich den Rücken.

»Zuletzt, als die Nebelsirene ihm einen Dolch in die Brust gestoßen hat.«

Kendar schluckte, fing sich aber gleich wieder. Sehr innig war die Beziehung zwischen ihm und dem Regenten sichtlich nicht.

»Und Cyriana?«

Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Sie liegt hier vielleicht irgendwo. Helft mir suchen.«

Etwas huschte an ihr vorbei, sprang auf einen Steinquader und blickte sich aufmerksam um. Schließlich fixierte sie eine Stelle im staubigen Dunst. »Hier schleicht jemand herum.«

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt