»Was soll dieser Unsinn?« Siquotan starrte verärgert auf die beiden jungen Frauen, die gerade von einer bewaffneten Eskorte hereingeführt wurden.
Zurolon huschte im Schatten der Felswand näher an das Geschehen heran. Seit über einem Tag warteten sie hier nun schon auf ein Zeichen des anderen Siquotans, der mit seinem kleinen Trupp, nebst Aratica und Kendar durch das Buch in Leishas Reich übergesetzt war. Es hatte ihn überrascht, dass weder Xarop, noch der Meerelf den Raum verließen. Beide wirkten ungemein nervös und gingen oft auf und ab. Nur Ördir, der Waldelf hüllte sich manchmal in seine wabernde Aura und verschwand, blieb aber nie länger als eine halbe Stunde weg.
»Die Fürsten haben Erzherzog Fablo die Regentschaft angeboten«, erklärte einer aus der Eskorte.
»Wie erwartet.«, fauchte Siquotan. Der Meerelf war ungewohnt aggressiv. Jegliche Freundlichkeit war wie weggewischt. »Verschwindet!«
Der Mann aus Fablos Garde ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Diese beiden jungen Damen hier sind die Schwestern Prinz Kendars. Nun ja, zumindest die, die hier im Palast leben.«
»Na und?«
Zurolon blickte auf die beiden Mädchen, die sich ängstlich umsahen und sich dabei an den Händen hielten. Sie waren deutlich jünger als Aratica.
Zu jung, um sie schon zu vermählen, aber zu alt, um sie am Leben zu lassen, durchzuckte die kleine Drachenschlange die Erkenntnis.
»Erzherzog Fablo wünscht, dass diese beiden Damen ihn begleiten, wenn er zum neuen Regenten ausgerufen wird. Sie sollen ihn dabei unterstützen.«
»Das kann er vergessen«, zischte die Ältere erbost. Ihre Augen funkelten vor unterdrückter Wut. »Unser Bruder wird euch aufs Schafott zerren.« Sie trat dem Mann gegen das Schienbein.
Der Gardist zuckte kurz zusammen, ließ sich aber ansonsten nichts anmerken. »Es würde seinen Anspruch untermauern, wenn er die Unterstützung dieser beiden zänkischen Weiber hätte.«
»Daraus wird nichts, sagt ihm dies.«
»Er meinte, es wäre für euch ein Leichtes, diese ...«Siquotan winkte ab. »Ich habe mich um andere Dinge zu kümmern ... und müsste wohl eine Weile bei ihnen bleiben, um sie zu besänftigen. Sie erscheinen mir ausgesprochen aufgewühlt.«
Die ältere Schwester brauste auf: »Aufgewühlt? Die Ratten des Herzogs haben die Palastgarde massakriert.«
Der Meerelf schien nicht überrascht. »Dann wird Dryadengrün wohl einen Herrscher bekommen, der zupacken kann.« Ein breites, charismatisches Lächeln glitt über seine Züge. »So leid es mir tut, meine Herren, aber ich kann dem Wunsch des baldigen Regenten nicht nachkommen.«
Der Gardist nickte. »Ich verstehe. Der Erzherzog hat mir aufgetragen, in diesem Fall Sorge dafür zu tragen, dass die beiden Damen keine Gelegenheit finden, seine Ausrufung zu stören.«
Zurolon erschrak und sogar die Ältere der Schwestern Kendars wurde leichenblass. Deutete der Offizier Fablos etwa an, die Mädchen aus dem Weg zu schaffen? Oder sollten sie nur weggesperrt werden?
»Dann tut, was euch befohlen wurde, und lasst uns hier in Ruhe.«
Siquotan wandte sich ab. Sein Blick schweifte über die anwesenden Männer. Er schien unzufrieden, denn er gab einem der Offiziere den Befehl noch mehr Gefangene aus den Verliesen herbeizuschaffen und an der jenseitigen Wand anzuketten.
Zurolon zögerte. Der Nocturne bereitete alles vor, damit Xarop den Blutritus sprechen konnte. Deshalb saßen am gegenüberliegenden Ende der Kaverne bereits gut vier Dutzend Männer, mit Ketten gefesselt am Boden. Hinzu kamen mindestens ebensoviele Wachen. Und in den nahegelegenen Verliesen hatte man tausende Verbrecher eingepfercht. Aber war der Bluthexer überhaupt so stark, einen arkanen Sturm zu entfesseln, wie es beide Yenravens vermocht hatten? Die kleine Drachenschlange war sich dessen nicht sicher. Andererseits was wussten sie schon über den Blutritus. Derjenige, den Halikarnosa am Hexenstein entfacht hatte, sollte ja die Hexe ausbrennen, damit die Göttin in das leere Gefäß überwechseln konnte. Vielleicht genügte bereits ein wesentlich weniger versierter Bluthexer, um für ähnlichen Schaden zu sorgen.
Den Schwestern Kendars schwante wohl, welches Schicksal sie erwartete, denn sie weigerten sich, ihren Häschern zu folgen. Jeweils zwei von Fablos Männern packten die Unglückseligen an deren Oberarme und zogen sie hinaus in den Gang. Er musste sich entscheiden. Zwar hatte er Zurolon versprochen, auf dieser Seite des Portals zu wachen, doch keinesfalls durfte er zulassen, dass die beiden Mädchen getötet wurden.
»Wehrt euch nicht, sonst werfen wir euch wie ein Sack Mehl über die Schultern.«, hörte er den Offizier der Garde sagen. Und dann war der kleine Trupp auch schon um die Ecke.
Siquotan wandte sich Xarop zu. »Es ist gleich soweit. Mein Bruder hat den Sandkreisel erreicht. Er wird ihn zerstören.«
Der Bluthexer nickte und setzte sich am Rand der Kaverne auf den Boden und schloss die Augen.
»Es geht gleich los, Drachenschlange. Du solltest hierbleiben, denn das wird ein Spaß«, erscholl die weiche Stimme Halikarnosas in Zurolons Geist.
»Ohne die Sonnensonnenscheibe und einer geeigneten Hülle nützt euch der Blutritus doch nichts.«
Ein glockenhelles Lachen, sanft und einfühlsam, antwortete ihm.
»Wer sagt denn, dass Xarop dieses ehrwürdige Ritual sprechen wird? Das wird er natürlich nicht.«
Zurolon hatte sich entschieden. Gegen die drei Nocturnen und Halikarnosa stand er hier ohnehin auf verlorenen Posten. Die Göttin wusste von seiner Anwesenheit und würde sein Eingreifen verhindern. Entschlossen huschte er den Gardisten nach. Dabei orientierte er sich an dem Gezeter der beiden Prinzessinnen. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
»Lauf nur, kleines Echslein, aber es nützt nichts mehr, denn alle im Palast sind verloren ...«
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...