Nichts ist, wie es scheint

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Valaria zuckte panikerfüllt vor dem Auge zurück. Einige Nesselfäden des Monsters schlängelten sich suchend bis unter den Torbogen, wanden sich wie frisch ausgegrabene Würmer. Sie drangen aber nicht weiter in den Raum ein.

»Bei den Göttern, was ist das?«

Langsam wich die Nebelsirene zurück, bis sie in ihrem Rücken die kalte Wand der Kammer spürte. Neben ihr lag Dairos und rührte sich nicht. Das Auge verschwand vom Eingang, die Nesselfäden zogen sich ruckartig zurück. Valaria ergriff das Ordensschwert des Ritters, hielt es prüfend in der Hand.

Konnte sie damit das Ungeheuer bezwingen? Sie bezweifelte es. Als Nebelsirene wusste sie zwar, was ein Schwert war, doch hatte sie keinerlei Erfahrung im Umgang. Unter Wasser war es nicht sonderlich hilfreich.

Sie rüttelte an der Schulter des Ritters. »Dairos, wir müssen hier weg.«
Als der frühere Ordensritter sich immer noch nicht regte, fasste sie ängstlich nach seinem Handgelenk und fühlte den Pulsschlag.

Beruhigt lehnte sie sich zurück. Dairos' Herz schlug ruhig und regelmäßig.
Die Kreatur war verschwunden, lauerte im Dunkel. Warum hatte das Monster sie nicht getötet? Es war zwar groß, müsste sich in die Kammer zwängen, doch es hätte sie mit den Nesselfäden auch herausziehen können. Stattdessen wartete es ab.

»Wege ohne Ziel, Leben ohne Sinn, ein Ende in Schmerz«, erklang es aus der Halle.

»Wer seid ihr?«, rief Valaria. Sie schlug dem Ordensritter ins Gesicht. Er musste aufwachen, sie brauchte ihn.

»Vergänglichkeit bringt keine Namen, nur Ewigkeit. Ich bin ein Schatten des Liberatus.«

Dairos kam langsam zu sich und ergriff ihre Hand, ehe sie ihm erneut eine Ohrfeige versetzte. »Bitte haltet ein, auch wenn es euch sichtlich Spaß macht.« Valaria hielt inne. »Es freut mich, euch wohlauf zu sehen, Ritter.«

»Wohlauf? Ihr schlagt zu wie ein Schmied.«

Dairos lehnte sich zurück, griff nach ihrer Hand und löste das Schwert aus ihren Fingern. »Das nehme ich lieber an mich, bevor ihr euch wehtut.«

»Schicksal ist der Tod, ob morgen, in einem Jahr oder heute, ja, heute ist gut.«, drang es wieder vom Saal herein.

»Wer ist dieser Philosoph?«, wollte Dairos wissen.
»Ganz klar ist es mir nicht, aber möglicherweise der Liberatus«, vermutete Valaria.

Etwas kicherte im Saal. »Philosoph? Liberatus? Schatten? Worte, die nichts bedeuten.«

»Der nervt. Warum habt ihr mich aufgeweckt?«
»Aus irgendeinem Grund kommt er nicht in die Kammer, Dairos. Aber ich befürchte, dass wir uns dieser Kreatur stellen müssen, wenn wir in den Saal zurückkehren.«

Der junge, frühere Ordensritter versuchte, sich aufzurichten. »Was ist geschehen? Mir ist die Erinnerung abhanden gekommen. Gerade wollte ich noch die Kammer verlassen, als ... ich gegen irgendetwas gerannt bin ... und dann wurde es schwarz.«

»Ich habe Nesselfäden wie bei einer Qualle gesehen und ein Auge, das nicht durch die Tür der Kammer gepasst hätte.«

Aufseufzend ließ sich Dairos an der Wand wieder zu Boden sinken. Valaria starrte ihn spöttisch an. »Ihr geht nicht raus und metzelt die Kreatur?«
»Wollt ihr das? Als gehorsamer Ordensritter würde ich sofort hinausstürmen, als Mensch, der seinen Verstand wiedergefunden hat, bevorzuge ich einen besseren Plan.«

Valaria ließ sich neben ihm nieder. »Wir können auch einfach hier sitzen bleiben und zusammen alt werden.«
»Interessanter Gedanke.«
Sie sah ihn spöttisch an. »Werdet ihr nicht irgendwann hungrig werden?«
»Oh, bei meinen Exerzitien fastete ich oft tagelang. Kein Problem, eine Weile ohne Essen und Trinken auszukommen.«

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt