Der unscharfe Mann war nicht mehr aufgetaucht. Dairos nahm den Beutel mit den Portalsteinen an sich, sowie den blauen Saphir und jenen weißen Stein, der immer von hohem Meister zu hohem Meister weitergegeben wurde.
Es blieb ihm keine Wahl, als diese Artefakte sobald wie möglich zur Kraterschmiede zu bringen. Vor allem der weiße Stein war wichtig, damit die Jünger einen neuen Hohen Meister ausrufen konnten. Mit einem letzten Blick auf das Grab Barut-al-Zavids wandte er sich ab. Er würde den Mörder jagen und aufspüren.
Zuvor galt es aber, Cyriana zu finden. Er ritt Tag und Nacht, bis sein Pferd erschöpft war. Dann tauschte er es in einem Dorf gegen ein Neues um.
Schließlich sah er in der Ferne den Dryadenturm in die Höhe ragen. Er verhielt sein Pferd und ließ es in langsameren Trab fallen. Die Kiesstraße, die er gewählt hatte, schlängelte sich weitab der großen Straße durch die Hügellandschaft.
Im Osten sah er dichte Schwaden aufsteigen. Der Nebelfjord war nahe.
Es dauerte nicht lange, bis eine der patrouillierenden Wachen ihn erspähte. Die Soldaten hatten ihr Lager auf einem der Hügel im Schatten einer gewaltigen Eiche aufgeschlagen. Als sie ihn sahen, schwangen sie sich auf die Pferde und galoppierten auf ihn zu.
»Wer seid ihr und was ist euer Begehr?«, wollte einer der Reiter wissen. Es waren vier Soldaten, bewaffnet mit einfachen Schwertern und nur schwach gerüstet. Dairos wägte ab, wie seine Chancen im Kampf waren, denn er war keinesfalls gewillt, sich zurückweisen zu lassen.
»Ich suche Freunde von mir. Eine kräuterkundige Heilerin namens Cyriana und ein knabenhaftes Mädchen, welches harmlos aussieht und sich Aratica nennt.«
»Und wer will das wissen?«
»Mein Name ist Dairos von Ordon. Ich bin ein früherer Ordensritter und stamme aus dem goldenen Reich.«
Zwei der Reiter führten ihre Pferde nah aneinander und tauschten sich gegenseitig aus. Schließlich nickten sie Dairos zu.
»In der Tat hat eine Patrouille heute Morgen auf der Wargonerstraße eine Frau dieses Namens aufgehalten. Da sie von unserem früheren Kommandanten Jutan begleitet wurde, händigte man ihr einen Passierschein aus.«
Er wollte weiterreiten, doch die beiden Reiter versperrten ihm den Weg.
»Selbst wenn ihr der legendäre Dairos aus den Legenden des Ordens sein solltet, so können wir euch die Weiterreise nur mit dem entsprechenden Erlass gestatten. Und eure Waffe muss zurückbleiben.«
Für dieses Ansinnen hatte Dairos nichts übrig. Er ahnte, dass er sein Schwert noch gut gebrauchen konnte. Keinesfalls würde er sich davon trennen.
»Haben die Dryadengrüns etwa Angst vor einem einzelnen, früheren Ordensritter?«
»Wir haben Respekt vor unseren Herren, den Turmrufern!«Nun ja, diesem Argument konnte sich Dairos in der Tat nicht verschließen. Das Fürstenpack war sehr spendabel, wenn es darum ging, ihren Untergebenen zu verdeutlichen, wer sie fütterte. Und den vier Soldaten hier blühte mehr als nur ein Versiegen der Futterquelle.
»Ihr könntet mich zum Turm eskortieren und mich dort einem eurer Vorgesetzten übergeben. Dann kläre ich das mit ihm und überdies seid ihr die Verantwortung los.«
Die Soldaten zögerten.
»Denkt daran, dass ihr Ärger mit euren Turmrufern bekommen werdet, wenn ihr mich nicht passieren lasst. Immerhin bin ich kein einfacher Ordensritter.«
Diesem zusätzlichen Argument erwiesen sich die vier Wachen des Dryadenturms durchaus zugetan. Der Anführer gab zweien seiner Kameraden ein Handzeichen. »Bringt ihn zum Wachkommando. Sollen die sich mit ihm beschäftigen.«
»Er hat keinen Passierschein. Wir bekommen nur Ärger«, protestierte einer der Soldaten.
»Wenn es der legendäre Dairos von Ordon ist, dann möchte ich nicht derjenige sein, der ihn zurückweist.«
»Er hat es doch nur behauptet.«Der Anführer warf einen prüfenden Blick auf Dairos. Seine Augen glitten über seine Statur, blieben am Langschwert haften, welches er in einer Rückenscheide trug. Schließlich musterte er den blonden Dreitagesbart.
»Das Risiko gehe ich ein. Er ist es.«
Die beiden Reiter wollten ihm gerade den Weg weisen, als ein schrecklicher Knall durch die Luft fegte. Sie sahen alle hinüber zum Dryadenturm.
Durch den Stolz Dryadengrüns ging ein Zittern. Die Spitze, auf der eine monströse Kugel lag, neigte sich. Täuschte sich Dairos oder begann nun sogar das ganze Bauwerk zu wanken? Laute Schreie hallten über die Felder. Ohne auf die überraschten Soldaten zu achten, gab er seinem Pferd die Sporen und jagte auf den Turm zu, dessen obere Hälfte sich nun deutlich zur Seite neigte.
Mit donnerndem Getöse knickte das hohe Gebäude mittig ab und krachend stürzten Trümmerstücke auf die umsäumende Zeltstadt. Dichter Staub wallte meterhoch und tauchte die Umgebung in ein graues Leichentuch.
»Bei allen Göttern, wo seid ihr nur hineingeraten, Cyriana«, durchzuckte es ihn.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...