Masken fallen

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Wir warteten einen halben Tag lang, versteckt in der rauen Rifflandschaft, bis der Liberatus mit einer quallenartigen Kreatur an seiner Seite das Ratsgebäude verließ, um unseren Abgesandten am Steilufer zu treffen. Der hatte sich mit den gewünschten Früchten angekündigt, konnte aber als Nebelsirene mit Fischschwanz nicht an Land kommen. Erwartungsgemäß kam der Buchmagier also zu ihm.

Wir hatten nicht viel Zeit, wussten nicht, wie lange unser Bote den Liberatus beschäftigen konnte, ehe dieser misstrauisch wurde.

Die vier Erdgänger sahen mich erwartungsvoll und fragend an. Ich gab Tsantinus, dem Schleierwirker ein Zeichen. »Erkundet, ob das Gebäude leer ist, oder ob Nocturnen vor Ort sind.«

Der Liberatus hatte das Mausoleum an einer kleinen Tür im großen Tor verlassen, diese aber wieder geschlossen. Auch wenn mein Späher verborgen unter seinem Schleier die Tür öffnete, so würde dies einen aufmerksamen Beobachter warnen, zumal wir nicht wussten, wo seine Begleitung steckte, die wir an Bord des Schiffes gesehen hatten.

Doch wir hatten Glück.

»Mit Ausnahme von Siquotan haben wir alle Nocturnen entdeckt. Sie stehen, mit geschlossenen Augen vor ihren Kammern. Es ist gespenstisch«, klärte uns Tsantinus auf, als er zurückkehrte.

Ich wies einem der Nebelsirenen an, zurück zum Meer zu gehen, um den Wogenkriegern Bescheid zu geben, und befahl zweien, versteckt, auf unsere Rückkehr zu warten. Mit dem Schleierweber zusammen schritt ich auf das Ratsgebäude zu. Um seine Kräfte zu schonen, betraten wir den großen Saal ohne den Schutz eines Schleiers.

Ich trat zu einem der statuenhaften Nocturnen, der Eiselfe Taquaia und berührte sie. Der bleiche Körper reagierte nicht, stand still und starr aufrecht vor der Kammer. Ich suchte ihre Augen. Sie waren geschlossen.

»Sie stehen unter einem Bann.«, sprach ich das Offensichtliche aus und wies Tsantinus an, sich umzuschauen.

Während mein Begleiter davonstob, betrat ich, neugierig geworden, das dunkle Gewölbe im Rücken der Eiselfe. Im Dämmerlicht gewahrte ich einen länglichen Felsblock, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Eine schimmernde Aura hüllte es ein. Das silberne Glimmen mahnte mich, vorsichtig zu sein. Ich erkannte einen Fluchzauber, wenn ich vor ihm stand. Die sichtbare Seite zeigte ein mir unbekanntes Symbol und darunter den Namen der Eiselfe.

Da das kleine Gewölbe ansonsten nicht allzu viel hergab, konzentrierte ich mich auf das Buch. Meine arkanen Geisteskräfte tasteten den Strahlenkranz ab. Einem ähnlichen Zauber verwendeten wir, um Muränenklingen zu schmieden. Ich durchdrang ihn, fasste nach dem Folianten, gewahrte einen wahren Funkenregen aus Verlangen, Gehorsam und Zwang, der das Buch wie ein Mückenschwarm umspielte. Darüber hatte ich schon einmal in alten Aufzeichnungengelesen, die ich damals, als ich mein Volk begründete, sammelte, um die ersten Magieweber auszubilden. Sie bildeten den Grundstock der kleinen Bibliothek auf dem Atoll inmitten der Nebelwasser. Dort reiften unsere menschlichen Kinder zu Nebelsirenen heran und so mancher wurde zum Schamanen ausgebildet.

»Eine Art Seelenbuch«, murmelte ich gedankenverloren und betrachtete die Schrift genauer. In der Tat, Taquaia hatte mit ihrem Blut unterschrieben und den Pakt besiegelt. Aber es war nicht irgendeines, minderer Qualität, sondern von außerordentlicher Macht, schenkte es doch ein jahrhundertelanges Leben. Ein derartiges Buch zu binden erforderte unfassbare Fertigkeiten. Solcherart arkane Werke wurden in den Lehrbüchern zwar als denkbar erwähnt, zählten aber für viele Magiekundige zum Legendenschatz.

Durch die schützende Aura hindurch gewahrte ich magische Funken, suchte darunter jene, die Taquaia zur willfährigen Handlangerin machten, drückte eine nach den anderen aus. Aber es waren zu viele. Auf diese Weise konnte ich die Eiselfe schwerlich aus ihrem Bann lösen.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt