Dairos sah, wie das letzte Fass, kaum das es zerborsten war, den Sandkreisel zum Zusammenbruch brachte. Er hatte aber keine Augen dafür, fixierte nur den Meerelfen. Eine muskelbepackte Gestalt lief an ihm vorbei und auf die dunkle Felsformation zu. Auf seinem Rücken sah er den Rucksack, den gerade eben noch Siquotan getragen hatte.
Ehe er dem Soldaten folgen konnte, zückte der Multiplex seinen Säbel und stellte sich ihm in den Weg. Mit gerunzelter Stirn musterte der Meerelf ihn. »Ich kenne euch. Wart ihr nicht am Dryadenturm?«
Dairos blickte kurz hinüber auf die sandige Ebene, wo er Araticas Körper vermutete. Er konnte sie aber nicht entdecken. »Irgendeinen von euch Bastarden habe ich dort sicherlich angetroffen. Ihr seid zahlreich wie Zecken im Gras und genauso überflüssig.«
Der Multiplex sprang auf ihn zu und führte einen ersten Hieb, den Dairos mühelos parierte. »Ach ja, diese Assassine war ja auch bei euch. Tut mir leid, dass sie ... nun ja, Spinnenfutter wurde. Hoffentlich war sie keine enge Freundin.«
Grimmig wirbelte Dairos sein Schwert herum, deutete einen Schlag gegen die rechte Schlaghand Siquotans an, um dann jedoch zur Seite zu treten, um in eine bessere Position zu kommen. Als er an den zuckenden Haufen der Spinnen dachte, wie sie über Aratica hergefallen waren, wurde es Dairos übel. Auch wenn die Assassine eine Mörderin war, unberechenbar und irre, so bedauerte er doch ihren Tod. Letztlich hatte sie jedoch nie im Glanze Raden-Surs gestanden, hatte den Dolch feige aus dem Schatten heraus geführt.
»Eine gute Bekannte, Siquotan. Mehr nicht. Ihr werdet euch alsbald zu ihr gesellen.«
»Ihr seid ein tumber Narr.« Mit einem wahren Trommelwirbel an Schläge und Hieben griff der Meerelf an. Er war ungemein schnell und geschmeidig und sichtlich mit dem Säbel geübt.
Nur ... das alleine reichte eben nicht, gegen einen Ordensritter. Dairos ließ den Angriff Siquotans ins Leere laufen und wollte gerade einen Gegenangriff starten, als ihn ein lautes Krächzen innehalten ließ. Sofort brachte er einige Schritt Abstand zwischen sich und dem Meerelfen. Über ihm löste sich der Pulk der Seelensauger auf. Orientierungslos flogen sie in alle Richtungen davon.
»Sie haben ihre Aufgabe verloren. Der Wall ist gefallen. Jahrhunderte lang verhinderten sie, dass wir den Sandkreisel erreichten.« Siquotan trat einige Schritte zurück und warf einen Blick über seine Schulter, suchte den Soldaten, den er mit seinem Rucksack Richtung Felsformation geschickt hatte.
Dairos atmete durch. Was auch immer der Meerelf dem Mann aufgetragen hatte, er musste gestoppt werden. Doch zunächst galt es, sich seines Gegenübers zu entledigen. Er warf erneut einen Blick auf die Sandfläche hinter ihm. Sandspinnen stoben in alle Richtungen davon. Wo lag Aratica? Hatten die Krabbelkreaturen sie etwa aufgefressen?
»Wusstet ihr, dass mit dem Zusammenfallen des Sandkreisels auch wieder die Magie in diese Welt zurückgekehrt ist?«
Dairos packte das Heft seines Schwerts fester und stapfte auf den Multiplex zu.
»Ein Ordensritter braucht nur den Glanz Raden-Surs.«
Siquotan lachte auf. »Aber er sollte sie fürchten.«
»Hebe ich mir für später auf.« Dairos hob seine Klinge.»Ihr solltet erst einmal innehalten und euch darüber klar werden, ob ihr auf der richtigen Seite steht.«
Überrascht blieb Dairos stehen. Daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Er war fest davon ausgegangen, dass Siquotan und die Nocturnen die Feinde waren. Beging er hier etwa einen Fehler?
»Wir wollten immer nur unser Volk retten, Dairos. Für einen Ordensritter sollte es kein hochanständigeres Ziel geben.«
Als ihm bewusst wurde, dass der Meerelf wahre Worte sprach, senkte er überrascht sein Schwert. In diesem ganzen Konflikt gab es zwei ehrbare Seiten, kein Böses, dass ausradiert werden musste. Dennoch irritierte ihn, dass Siquotan nun den Griff seines Säbels fester umschloss und mit einer drohenden Haltung auf ihn zukam. Dabei hatte der Meerelf keinerlei Ungemach zu befürchten. Warum sollte er denn seine Waffe gegen jemanden erheben, dessen Ideale dem eines Ordensritters in nichts nachstanden?
Ganz automatisch kamen ihm die ersten Silben von den Lippen.
»Der Orden ist Licht, der Orden ist Glanz, der Orden ist Reinheit
Ich unterstelle mich seiner Weisheit.«Mühelos konterte er den ersten Angriff Siquotans.
»Wehrt euch nicht, Ritter. Ihr habt euer Leben gelebt und gebt es nun für eine viel großartigere Sache auf.«
Verdammt, der Meerelf hatte Recht. Er hatte sich die letzten Tage, gar Wochen gegen die hehren Ziele Siquotans gestellt und musste nur Manns genug sein, seine Bestrafung entgegenzunehmen.
Der Multiplex schlug ihm die Ordensklinge aus der Hand. Ein Lächeln glitt über seine Züge. »Ihr wärt ein guter Kämpfer. Schließt euch uns an.«
»Achte deinen Gegner, zeige Respekt. Verbeuge dich vor seiner Entschlossenheit und seinem Zorn, denn die Demut ist das Schild.«, rezitierte Dairos die zweite Richtlinie des Gleichmuts.
Er warf sich in den Sand, rollte zur Seite, ergriff sein Schwert und sprang in den Stand. »Ich bin ein Ordensritter im Dienste Raden-Surs.«
»Ihr seid erstaunlich. Manchmal treffe ich auf Menschen, die mir widerstehen. Ob es Aratica ist, für deren Irrsinn meine Bannsprüche keinen Ansatzpunkt finden oder Erzherzog Fablo, der weit mehr ist, als er zu sein scheint, so seid ihr dagegen jemand, auf den ich noch nie getroffen bin.«
»Ach ja.« Dairos wich zurück. Mit jeder Faser seines Herzens wollte er das Schwert auf den Boden schleudern und sich der Gnade Siquotans ausliefern. Doch er war den Werten des Ordens verpflichtet, nicht dem, was er für gut befand.
»Ihr seid so starr in eurer Sicht von Rechtschaffenheit und Ehre verwoben, dass ihr euch immer wieder aus meinem Griff herauswindet.« Er runzelte die Stirn. »Erstaunlich.«
Dairos spuckte aus, konzentrierte sich auf die dritte Richtlinie. »Achte deinen Körper, zeige deine Kraft, fürchte nicht den Tod, denke nicht an das morgen, denn die Opferbereitschaft ist das Schwert.«
»Ja eure schöne gelbe Ordenswaffe. Werft sie bitte zu Boden, ... opfert sie ... für mich.«
Als wäre der Schwertgriff glühend heiss geworden, ließ Dairos seine Waffe los.
»Und damit endet es.« Siquotan stieß mit seinem Stiefel die Klinge zur Seite und hob seinen Säbel an.
Gerade als er ihm den tödlichen Hieb versetzen wollte, schlugen zwei Dolche in seiner Brust ein. Irritiert blickte der Meerelf zur Seite. Eine Gestalt wankte auf ihn zu.
»Tut mir leid, Dairos, aber ich musste verhindern, dass ihr die vierte Richtlinie auch noch aufzählt. Das hätte ich nicht ausgehalten. Die drei anderen brachten mich schon um den Verstand.«
Vollkommen verblüfft starrte Siquotan auf Aratica, die ein paar Schritte auf ihn zumachte und dann auf die Knie ging. »Seht, was ihr angerichtet habt.«
»Wie? Ihr müsst tot sein.« Der Meerelf klappte röchelnd zusammen. Um seinen Oberkörper verfärbte sich der Sand rot und ein letztes Zucken ließ seinen Körper erbeben. Siquotans gebrochenen Augen waren noch immer auf die Assassine gerichtet und verrieten seine Fassungslosigkeit.
Dairos ging zu Aratica und half ihr auf. Ihre Stirn zierte eine gewaltige Beule und sie machte einen verwirrten Eindruck. »Ihr lebt!«
»Ja, eure ... Bekannte ... darf noch ein wenig in Raden-Surs Schatten wandeln.«
»Wie konntet ihr ...?«
»Ach das?« Aratica zog etwas aus ihrem Gürtel hervor. »Kaspians Steinchen. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig greifen.«
Dairos schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber es ist doch unmöglich, nicht an die Spinnen zu denken, wenn sie auf euch ... landen?«»Darum ...«, Aratica deutete auf ihre Stirn. »... habe ich mich selbst KO geschlagen.«
Sie musste sehr kräftig mit dem Knauf eines Messers zugeschlagen haben. Verdammte Irre. Dairos besah sich die Verletzung, die nicht gut aussah. In diesem Zustand war sie keine Unterstützung für ihn.
»Schaut mich nicht so an. Ihr habt ja Recht, bin wohl nur eine Last.«
»Immerhin habt ihr Siquotan mit euren Dolchen getroffen.«
»Ach ja. Eigentlich hatte ich auf euch gezielt.«Grinsend erhob sich Dairos. »Trotzdem danke ich euch. Wartet hier auf mich.«
Er stapfte dem Soldaten hinterher, der mittlerweile stehengeblieben war und den Rucksack öffnete. Steine kullerten heraus, die auf magische Weise zu schweben begannen und ein schillerndes Portal bildeten.
»Geht nur, ich komme gleich nach.« Aratica verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...