Valarias Entdeckung

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Auch wenn er zuckte wie ein Fisch an Land, er war tot ...

Als die Wachen hereinströmten und den Regenten ergriffen, um ihn aus dem Turm zu ziehen, hüllte sich Valaria gedankenschnell in ihren schützenden Schleier.

Sie zögerte einen Moment. Der Strom der Schattenkobolde war versiegt. Es würde Stunden dauern, ehe das Buch weitere ausspucken konnte. Das Gebäude wankte bedrohlich und die Soldaten rannten aufgeschreckt zum Ausgang.

Der Turmrufer, der wie durch ein Wunder von den schattenhaften Kreaturen des Folianten verschont geblieben war, kreischte auf und schloss sich den Männern an.

Ihr blieb keine Zeit, sie musste ihnen folgen. Sie warf einen letzten Blick auf das Buch, das am Boden des Atriums lag und dessen blauen Schwaden sich nach und nach auflösten. Es war verloren.

Dann zwängte sie sich mit den Soldaten ins Freie.

Mit einem Donnergrollen gab die Mauer dicht neben ihr nach.

Der Turm fällt! Ribhar, wo bist du?

Die ganze Außenmauer zerbröselte unter dem Gewicht der oberen Etagen. Valaria sprintete an den Wachen vorbei, die sich weiterhin mühten, ihren schwerverletzten Regenten aus dem Nahbereich des Turms zu ziehen.

Ihre Loyalität erstaunte sie. Landbewohner waren niedere Wesen ohne Ehre und Gewissen. Aber Ribhar hatte sie darüber aufgeklärt, dass nicht alle gleich waren.

... bei Qritonis, ich hoffe, du hast es geschafft ... du musst es ...

Ein gewaltiger Steinblock krachte dicht neben ihr auf den Boden. Staub wallte auf. Ein dumpfes Grollen, wie von einem nahenden Gewitter folgte. Die Erde wankte und nur mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht.

Und dann stürzte der ganze Turm mit einer unglaublichen Wucht in sich zusammen. Die Spitze knickte ein und krachte, den Göttern sei Dank, auf der gegenüberliegenden Seite auf die Zeltstadt. Im Nu war alles in dichten Staub gehüllt. Die Schreie Verletzter und die Rufe derer, die andere suchten, waren wie Balsam in ihrem Geist. Qritonis' Schiedsspruch hatte sie getroffen. Keiner von ihnen war unschuldig.

Sie blieb stehen. Nein, sie konnte noch nicht gehen. Wo war ihr Laichbruder und wo steckten Cyriana und der intrigante Meerelf?

Ihre Magie erlosch. Sie konnte den Schleier, der sie unsichtbar machte, nicht lange aufrecht erhalten. Die Passierscheine hatten sie gebraucht, um auf das Gelände des Dryadenturms zu gelangen, doch hatten sie ihr keinen Einlass für den heutigen Tag gewährt. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich im Schutze ihres Schleiers Zutritt zu verschaffen und sich danach unter die gemeinen Bittsteller in einen der tieferen Ränge zu zwängen.

Der Staub und das allgemeine Chaos gaben eine gute Deckung. Sie hielt sich ein Tuch vor den Mund und drang in das Gebiet direkt um das zerborstene Fundament des Turms ein.

Berge von Schutt und Stein versperrten ihr das Weiterkommen. Ob Ribhar darunter lag? Die Angst um ihren Jugendfreund ließ sie jeglichen klaren Gedanken verlieren. Er war für sie wie ein Bruder. Niemandem hatte sie sich je näher gefühlt. Seitdem sie dem gleichen Laich entsprungen waren, hatte nichts sie trennen können.

Bis die Mutter, die Nuark-Qol, ihm vor einem Jahr den Auftrag gab, unter den Menschen zu wandeln.

Sie stolperte über die zerschmetterten Körper zweier Adeliger. Unter einem mächtigen Steinquader lugte eine Hand hervor. Verzweiflung erfasste sei. Zwischen dem Geröll glaubte sie, manchmal eine Bewegung zu erhaschen. Die Schattenkobolde lösten sich langsam auf, verwehten im Sog der verlöschenden Magie. Ihre Zeit war abgelaufen.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt