Nuark-Qol

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Stundenlang hatten die Nebelsirenen in der aufgewühlten See das zerborstene Riff erforscht, aber keine Spuren von Valaria oder Dairos gefunden. Nur noch vereinzelte Felsnadeln spitzten aus dem Wasser und umsäumten im Zentrum einen flachen Geröllberg, der nur wenige Fuß aus den schäumenden Fluten herausragte.

Cyriana rechnete mit dem Schlimmsten, zwang sich aber dazu, ruhig zu bleiben. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie die beiden es geschafft haben konnten, zu überleben, so klammerte sie sich an den Funken Hoffnung, dass es ihnen irgendwie gelungen war.

Denn es fehlte auch jeglicher Hinweis auf den Liberatus, der, davon war sie felsenfest überzeugt, geflüchtet war. Die Zerstörung des Riffs ging zweifellos auf diesen mysteriösen Magier zurück. Kaum vorstellbar, dass er sich selbst damit getötet hatte.

Ilortus hatte sie, Lajetan und Guus, dem letzten Überlebenden der Besatzung der Drachenkrähe auf das große Blatt der Nuark-Qol geleitet und sie gebeten zu warten. Danach war er im Wasser untergetaucht und verschwunden. Dem Schamanen war es wegen seines Fischschwanzes nicht möglich, das Refugium der Nuark-Qol zu betreten. Aber es dauerte nicht lange, da näherte sich ihnen eine sehr junge Nebelsirene und bat sie schüchtern, ihr zu folgen. Dabei warf sie ihr immer wieder ehrfurchtsvolle Blicke zu.

Derweil nahm das Gebilde Geschwindigkeit auf und durchpflügte die Fluten. Fasziniert bemerkte Cyriana, dass sich die Strömung geändert hatte und das Blatt auf Wellenkämmen ritt.

»Wohin geht die Reise?«, wollte Lajetan wissen. Er griff nach der Schulter ihrer Führerin und hielt sie fest.

Die junge Nebelsirene zuckte zusammen. Sie wirkte verängstigt, geradezu traumatisiert und zitterte am ganzen Körper. Cyriana erinnerte sich daran, dass beim Angriff der beiden Karavellen auf das Laichblatt sich zahlreiche Kinder in die Salven der Arkebusiere geworfen hatten.

Ohne etwas zu sagen, starrte ihre Führerin in das Gesicht Lajetans, der sie daraufhin losließ und einen Schritt zurücktrat. »Verzeiht, junges Fräulein. Ich wollte euch nicht verschrecken.«

Als sie weitergingen, spürte Cyriana ein heftiges Ziehen im Magen. Sie blieb stehen, griff sich in die Bauchgegend und erbrach sich. Sie wäre zusammengebrochen, hätte Lajetan sie nicht geistesgegenwärtig gestützt.

Trotz der Schwäche in den Beinen stieß sie ihn weg. »Fasst mich nicht an.«
Er trat zurück. »Natürlich, Lady Cyriana. Könnt ihr alleine weitergehen?«

Sie horchte in sich, vernahm das unregelmäßige Pochen ihres Herzens und roch das verfaulende Fleisch an den Rändern der schwärenden Wunde. Ein langgezogener, quälender Schmerz jagte durch ihr Inneres und ließ sie keuchend auf die Knie gehen.

»Wohl eher nicht«, kommentierte Lajetan trocken und hielt Guus die offene Handfläche hin, als er sich nach ihr bücken wollte. »Nein. Sie muss es alleine schaffen.«

»Was ist mit der Najadengöttin?«, hauchte die junge Nebelsirene entsetzt. Der Schrecken war ihr anzusehen.

»Die Magie, um sich eurem Angriff zu erwehren, fordert nun ihren Tribut.«
»Was können wir tun?«
»Habt ihr einen Tee aus den Blättern der Moderbeere vorrätig?«

Das Mädchen, mehr Kind als Frau, sah verzweifelt auf. »Was ist eine Moderbeere?«

»Ihr habt doch etwas davon auf dem Schiff verstauen lassen.«, mischte sich nun Guus ein. Seufzend nickte Lajetan. »Ach ja, ich vergaß.«

Wie durch einen Nebelschleier sah Cyriana, wie der Steuermann mit der jungen Nebelsirene davoneilte. Vermutlich beschrieb er ihr, wie die Holzkassette aussah, die der Großmeister in weiser Voraussicht mitgenommen hatte, um ihr zu helfen, sollten ihre Kräfte benötigt werden.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt