Zwischenwelt

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Cyriana öffnete die Augen und sah sich um. Der Himmel leuchtete in einem hellen Orange, während vier Sonnen grün vom Firmament grüßten. Sie lag auf einer sandigen, goldgelben Düne. Es war drückend heiß.

Aber sie lebte.

Siquotans hochgewachsene Statur bildete einen seltsamen Kontrast zum Himmel und der endlos scheinenden Umgebung.

»Wo sind wir, Multiplex?«
»Wir sind in Leishas Reich. Einer Welt jenseits unserer Eigenen.«

Seltsame, nachtschwarze Wesen flatterten über ihre Köpfe hinweg. Sie ähnelten Fledermäusen, stießen dabei klackernde Laute aus. Cyriana kniff ihre Augen zusammen. Die Kreaturen erinnerten sie an die Schattenkobolde aus dem Buch.

Siquotan schien ihre Gedanken zu erraten. »Ja, es sind die Kobolde. Aber solange wir ruhig bleiben, werden sie uns nichts antun.«

Nur wenige hundert Meter entfernt verdeckte eine hellblaue Wolke, einer Säule gleich den Himmel. Einige der Fledermäuse verschwanden im Inneren und tauchten nicht mehr auf.

»Was ist das?«
»Etwas, dem wir nicht zu nahe kommen sollten.«

Cyriana drehte sich um und gewahrte ein seltsames Flirren. In weiter Ferne schien sich die Luft zu bewegen, formte einen wabernden Wall. Ein Donnergrollen fegte über die Dünen, bildete wirbelnde Staubteufel.

»Was ist das?«
»Ein Ort, dem wir noch viel weniger nahekommen sollten.« Siquotan lächelte gequält und irgendwie ... sehnsüchtig, wie jemand, der etwas verloren hatte.

Sie sah sich um. Der Dryadenturm war gerade eben eingestürzt und doch erblickte sie keine Trümmer. »Wir sind in diesem Buch?«, platzte es aus ihr hervor.

»Der Foliant ist nur eine Art Portal. Es verbindet aber nicht Orte, sondern Welten.«

Sie erhob sich aus dem Sand, schwankte etwas, da die feinen Körner unter ihren Füßen nachgaben. Ein Windhauch umspielte sie. Ein fremdes Reich?

»Valaria hatte ein ebensolches Buch dabei. Ihr müsst eine gemeinsame Geschichte haben.«

Siquotan zog sie den Sandhügel hinab in eine Senke zwischen den Dünen, fort von der bläulichen Säule, in dem immer noch vereinzelte Fledermäuse eintauchten.

»Ja und Nein.« Er drehte sich um, versuchte, sich zu orientieren. »Diese Wolke dort ist das Portal in unsere Welt. Diese fliegenden Kreaturen, die hineinfliegen, sind Schattenkobolde.«

Er wirkte in der Tat etwas ratlos. Cyriana wurde das Gefühl nicht los, dass Siquotans Flucht ins Buch eine Verzweiflungstat gewesen war, geschuldet dem Versuch, dem einstürzenden Turm zu entkommen.

Andererseits war er hier gewiss nicht zum ersten Mal. Sie versuchte, einen Druidenzauber zu weben, scheiterte jedoch. In dieser Welt erspürte sie keinerlei Magie. Sie fröstelte, als ihr bewusst wurde, wie hilflos sie war.

Was war mit dem schwärenden Riss in ihr? Sie horchte in sich, fühlte keinen Schmerz, keine Fäulnis. Die Wunde, die ihr einst die arkanen Armbänder geschlagen hatten, schwieg.

»Ich spüre keinerlei Magie.«
»Es existiert hier nichts, ... nein, das stimmt nicht ganz.«
»Was meint ihr?«
»Zauberkundige ziehen ihre Magie aus der Luft, aus Gegenständen, aus dem Leben. Doch hier gibt es nichts, aus dem man einen Zauber weben kann.«

Sie verstand. »Aber ein magisches Artefakt würde seine Macht hier nicht verlieren, denn die Magie wurde darin gebunden. Darum funktionieren auch hier die Portale.«

Er seufzte. »Das ist so. Doch leider braucht man ein bestimmtes magisches Utensil, um diese Welt wieder verlassen zu können. Ich hatte nicht mehr genug Zeit es zu erschaffen.«

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt