Ritt nach Perlhafen

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Nachdem sie Tran begraben hatten, verblieben bis zum Sonnenaufgang noch einige Stunden, die Dairos nutzte, um sich auszuruhen. Doch kaum rissen die ersten Sonnenstrahlen den morgendlichen Nebel auseinander, weckte er die Nebelsirene und sie machten sich auf den Weg.

Eine Zeitlang ritten sie wortlos nebeneinander. Jeder von ihnen hatte über einiges nachzudenken. Schließlich brach er das Schweigen und begann ausführlich über Cyrianas Leben zu erzählen. Er ließ nichts aus, verschwieg auch ihre dunklen Seiten nicht. Valaria hörte regungslos zu, verzichtete auf Rückfragen, doch war er sich sicher, dass sie jedes Wort von ihm wie ein Schwamm aufsog.

»Der Mensch, der sie vor achthundert Jahren war, existiert nicht mehr.«, schloss er schließlich.

Valaria warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Seid ihr euch sicher, dass ihr die Bluthexe unvoreingenommen beurteilt?«

»Was meint ihr?«
»Nun, einiges, was sie tat, wäre durchaus zu hinterfragen. Sie hat einen Dämon entfesselt und obwohl sie wusste, dass die Sonnenscheibe in Gefahr war, weihte sie niemanden ein.«
»Sie vertraute keinem, außer sich selbst.«
»Sie belog euch über ihre wahre Identität.«
»Um sich zu schützen.«

Valaria schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Das ist nicht alles, Dairos. Was verschweigt ihr mir?«

Sie hatte recht. Auch sein Verhalten entsprach nicht dem, was von einem Ordensritter erwartet wurde. In der Tat hatte er Cyrianas wahre Identität schon gekannt, noch ehe er mit Kendar und Aratica ihr zum Hexenstein folgte und geschwiegen. Dabei hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen können, welche Ziele Cyriana wirklich verfolgte. Erst im Ballon hatte sie über ihre Vergangenheit gesprochen.

»Sie hat mein Leben gerettet.«
»Damals, als ihr am Hexenstein gegen Halikarnosa gekämpft habt.«

Er schüttelte den Kopf. »Bei meiner Geburt atmete ich nicht. Sie war die Hebamme, die mich entband und hauchte mir ihre eigene Lebenskraft ein.«

»Dann schuldet ihr ihr euer Leben.«

»Ohne sie säße ich nicht hier auf diesem Pferd.« Er sah auf. »Es spielt aber keine Rolle, Valaria. Als Cyriana seinerzeit mit Barut-al-Zavid vom Hexenstein floh, nahm sie das Elend wahr, welches sie über die Menschen gebracht hatte. Niemals wird sie das vergessen.«

Die Nebelsirene schnaubte. »Glaubt ihr nicht, Dairos, dass eines Tages ihre dunkle Seite zurückkehren wird? Sie hat sich schon einmal verändert. Es kann wieder geschehen.«

Sie erreichten eine Kreuzung. Dairos nahm die Abzweigung, die einen kleinen Umweg bedeutete. Ihm war klar, dass sie nicht denselben Weg wie Ignatus nehmen durften. Der bucklige Ordensabt war nicht dumm. Er würde Späher auf der Strecke postieren, um vorbereitet zu sein.

»Ich vertraue ihr.«

Valaria schüttelte den Kopf. »Sie hat die Macht Völker zu zerstören. So jemand darf nicht weiterleben.«

»Ihr wart nicht dabei, als sie die Nachtschrecken aus Granitfurt abwehrte oder am Hexenstein mit dem Feuerelementar rang.« Ihm kam ein Gedanke. »Aber hat sie nicht auch euch gerettet und wäre dabei fast gestorben? Wie könnt ihr so etwas ignorieren, als hätte es keine Bedeutung.«

»Ich habe meine Gründe.«
»Dann lasst mich nicht im Dunkeln.«

Valaria sah in den Himmel. »Bei Qritonis, wo fange ich nur an.«
»Von vorne.«
»Wollt ihr witzig sein?«
»Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
»Nun gut, Dairos von Ordon.«

Valarias Augen wurden starr. Sie tauchte tief in ihre Vergangenheit ein.

»Dann beginnen wir mit der Entstehung des Volks der Nebelsirenen. Wir sind Nachkommen von Schiffbrüchigen, die Zuflucht auf einem Feld schwimmender Seerosenblätter fand. Dieser Ort hielt uns gefangen, denn ein gewaltiger Wasserwirbel umschloss ihn und verhinderte jegliche Flucht. Wir wären alle gestorben, wenn es nicht Qritonis selbst dort hinverschlagen hätte.«

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt