In großer Entfernung schälte sich ein gewaltiger Turm aus dem Dunst des frühen Morgens. Jutan fand jedoch keine Zeit für einen schnellen Blick. Seine Aufmerksamkeit galt einzig dem glitschigen Weg an den Klippen entlang, der nun, zu seiner grenzenlosen Erleichterung in einer weiten Kurve endgültig ins Landesinnere abbog.
»Da heute der Fürstentag ist, wird es einige Kontrollen geben. Der Adel sieht es nicht gerne, wenn ungebetene Gäste kommen«, erklärte er.
Sein Fahrgast nickte. Sie hatten in der Nacht nur kurz geschlafen, um den beiden Dragonerpferden die nötige Ruhe zu geben, und waren so früh wie möglich aufgebrochen, um zeitig anzukommen.
»Wir haben keinen Passagierschein, wie der, den Ribhar und Valaria haben«, meinte Cyriana besorgt und musterte unbeeindruckt den gewaltigen Dryadenturm, der sich bis weit in den Himmel streckte. Jutan drängte sich der Gedanke auf, dass die Kräuterkundige nicht zum ersten Mal hier war.
Er zuckte mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle.« Er würgte den Kloß in seiner Kehle hinunter. Er galt vorsichtig zu sein. An diesem Ort gab es Menschen, die ihn in den Kerker werfen würden, sollten sie ihn entdecken.
Aus dem feinen Dunst schälte sich ein Quartett berittener Soldaten heraus und ritt auf sie zu. Sie bildeten einen Kreis um den Karren.
Er strich sich durch seinen schlohweißen Bart und versuchte, sich zu beruhigen. Seine Schwiegertochter hatte um das Risiko gewusst, als er Cyrianas Auftrag annahm und ihn gewarnt. Nun brauchte er Glück. Einer der Turmsoldaten ritt näher heran und musterte misstrauisch den Kriegshammer auf der Ladefläche. Als der Blick des befehlshabenden Soldaten sich mit dem seinen kreuzte, zuckte dieser sichtlich überrascht zusammen.
»Jutan?«
Einer der älteren Berittenen, ein grauhaariger Veteran, kam längsseits und schlug mit seiner Faust zur Begrüßung auf die Rüstung. Jutan erkannte ihn sogleich wieder. Respektvoll erwiderte er die Geste.
»Das nenne ich eine Überraschung. Ihr wisst, dass ihr euch hier nicht blicken lassen solltet.«
Jutan wusste dies nur zu gut. Er hatte sich schwere Verfehlungen geleistet und wäre wohl eingekerkert worden, hätten die Turmrufer sich nicht seiner Verdienste erinnert und ihn stattdessen nahegelegt, seinen Abschied einzureichen. Sich hier zu zeigen hieß, sein Schicksal herauszufordern.
Statt auf die Worte seines einstigen Untergebenen zu antworten, deutete er auf die Druidin. »Dies ist Cyriana. Sie bat mich, sie hierherzubringen. Wir müssen zum Turm.«
»Eine Weiterfahrt können wir nicht erlauben. Ihr wisst, dass keiner, der nicht eingeladen oder angemeldet ist, am Fürstentag den Dryadenturm aufsuchen darf. Es herrscht dieser Tage dort ein regelrechtes Gedränge. Nicht weniger als etwa hundert Adelsfamilien mit Gefolge sind vor Ort.«
Der Mann deutete auf eine abseits liegende, ärmlich wirkende Zeltstadt.
»Und ebenso viele Bittsteller aus ganz Dryadengrün kamen mit Passierscheinen. Mehr als es hätten sein dürfen.«
»Hört mir zu, Kameraden. Ihr wisst, dass ich keinen Ärger machen werde. Meine Begleiterin hier hat ein berechtigtes Interesse und soll ihre Chance bekommen. Wenn der Turmrufer ihr Anliegen zulässt, darf sie sprechen.«
Der Anführer der vier Berittenen zögerte kurz. Er unterhielt sich leise mit einem seiner Männer. Schließlich beugte er sich zu ihm herab und reichte ihm eine Pergamentrolle, die er aus seiner Satteltasche hervorgezogen hatte.
»Der alten Zeiten willen, Jutan. Hier habt ihr einen Passierschein. Bleibt im Schatten.«
Auf ein Zeichen ihres Anführers hin ritten die vier Soldaten weiter. Er sah ihnen grübelnd nach. Hätte er das Geld nicht so dringend benötigt, so wäre er niemals wieder hierhergekommen. Seufzend wandte er sich zu Cyriana um und reichte ihr das Dokument.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasiaBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...