Der Nebel lag schwer über dem Fjord. Ein Kopf mit langen schwarzen Haaren schälte sich aus dem Wasser und beobachtete durch den dichten Dunst hindurch die Händler, wie sie vom Fährhafen abzogen. Doch ein breitschultriger Krieger war todesverachtend bis ans Ufer marschiert, hatte eine gelbliche Klinge gezückt und in den Nebel gestarrt. Erst nach einigen Minuten war er zurückgewichen. Viel später, als sie gedacht hätte.
Der Kopf der jungen Frau wandte sich gen Westen. Niemals wieder durften Menschen das Meer betreten. Sie waren wie Ungeziefer, breiteten sich ungehemmt überall hin aus. Wie sie sie verachtete. Nun hatten sie aber eine Grenze übertreten, die sie nicht hätten überschreiten dürfen.
Sie tauchte unter, passierte das zertrümmerte Floß, auf welches die Leute im Fährhafen gewartet hatten, kreuzte die im Wasser treibenden toten Händler und Pferde und gab dem Sirenenchor das verabredete Zeichen. Die etwa ein Dutzend Laichsängerinnen verstummten in ihrem Gesang, der unhörbar die Köpfe der Menschen in Furcht getaucht, sowie sie gewarnt hatte, den Fjord zu betreten.
Nicht das sie das bedauerte. Im Gegenteil. Sie hätten ihr verdientes Schicksal gefunden. Doch jegliche Konfrontation erhöhte das Risiko, dass sie entdeckt wurden. Dafür war es aber noch viel zu früh. Die Vorbereitungen waren nicht abgeschlossen.
Zwei Wogenkrieger umschwammen die Ertrunkenen und stahlen all das, was sie benötigte, um unter den Menschen zu wandeln. Kleidung, Dukaten, Waffen. Ein Schemen durchstieß die Fluten. Die Gestalt des Schamanen näherte sich den treibenden Holzfässern voller Seelenwein. Sie nahm sich zurück. Ilortus sprach im Namen ihrer aller Mutter.
Entschlossen rammte er einen Dolch in das Holz. Sie umringten ihn, sahen schweigend zu, wie die rötliche Flüssigkeit in das Meer floss. Schließlich gab der Schamane ein Zeichen. Sie wandten sich ab und schwammen hinüber zum jenseitigen Fährhafen.
Ihr Herz wurde schwer. Der von ihr so gefürchtete Augenblick, auf den ihre Lehrmeister sie jahrelang vorbereitet hatten, war gekommen. Ihr Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Sie spürte die Hand des Schamanen auf ihrer Schulter. Er spendete Trost. Dankbar nickte sie ihm zu.
Nahezu synchron tauchten sie alle ihre Köpfe aus dem Wasser. Der Fährhafen wirkte verlassen. Die Wogenkrieger hatten die Menschen, gleichsam Männer und Frauen, gnadenlos mit ihren Blasrohren niedergestreckt. Keiner hatte überlebt. Der Tod hatte ihr Leben wie eine Woge fortgeschwemmt.
»Wir sind das Meer, wir sind Nebelsirenen«, bekundete der Adept des Schamanen ihr seinen Respekt. Sie nickte ihm dankbar zu. »Wir sind das Meer«, bestätigte sie.
Es war so weit. Eine Gestalt näherte sich aus dem Schatten der Hütten und betrat den Landungssteg, der sich drohend ihr entgegenstreckte. Valarias Herz begann wild zu pochen, als sie in dem Mann Ribhar erkannte. Wie lange hatten sie ihren Laichbruder schon nicht mehr gesehen?
Die Nebelsirene an ihrer Seite wich zurück. Nacheinander schälten sich all ihre Begleiter aus dem Wasser und schwammen langsam an ihr vorbei, schlugen mit ihren Fischschwänzen kurz gegen den ihrigen. Sie zeigten ihr Respekt und Verbundenheit, teilten den Schmerz und akzeptierten ihr Opfer. Keiner unter ihnen sprach ein Wort. Es war auch nicht nötig. Sie trauerten still. Als der letzte schuppige Schwanz matt glänzend in den Fluten des Fjords verschwand, erfüllte sie eine nie gekannte Einsamkeit. Die Zeit der Gemeinschaft war vorbei.
Ein länglicher Körper tauchte längsseits am Steg auf. Ilortus, der Schamane, bereitete sich darauf vor, seine Magie zu wirken.
»Valaria.« Der Mann auf der Anlegestelle, Ribhar, blieb stehen und winkte ihr. Fasziniert sah sie auf seine beiden Beine. Er grinste über das ganze Gesicht, schien aber einen festen Stand zu haben. Alte, längst vergessene Erinnerungen aus ihrer Kindheit krochen in ihr Bewusstsein.
DU LIEST GERADE
Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...