Ignatus trat zur Seite. Dichter blauer Dunst stieg aus dem Buch auf. Eine eisige Atmosphäre breitete sich aus.
Die Geschichtenerzähler sprangen auf, wichen zurück. Jeder in diesem Raum spürte, dass sich etwas Gefährliches näherte. Aber er hatte keine Wahl gehabt, musste in Erfahrung bringen, was es mit dem Buch auf sich hatte.
»Vorsicht, ehrwürdiger Ordensabt. Kommt auf unsere Seite«, warnte ihn einer seiner Ordensgardisten.
Die Worte rissen ihn tatsächlich aus seiner Starre und ließen ihn Abstand zum aufgeschlagenen Folianten gewinnen.
Ein langer, aber dünner Tentakel schlängelte sich aus dem dichten Nebel, verhielt kurz und schnellte dann vor. Einer der Geschichtenerzähler wurde gepackt und schreiend in die wabernden Schwaden gezogen.
»Befreit ihn!«, befahl Ignatus, während er sicherheitshalber selbst die Nähe zu Favulkos suchte.
Die Ordensgardisten, gedrillt durch eine gnadenlose Ausbildung, zögerten nicht. Natürlich hatten sie Angst vor dem, was im Nebel auf sie lauerte. Doch niemand wollte sich vor seinem Ordensabt eine Blöße geben. Der Orden strahlte im Glanze des Muts und der Unerschrockenheit.
Weitere Arme peitschten aus dem Nebel, packten nun einige Gardisten und schleiften sie über den Boden ins Innere. Eine verdrehte Gestalt, der Geschichtenerzähler, wurde aus den wabernden Schwaden hinaus gestoßen und blieb mit gebrochenen Armen liegen. Sofort eilten Ordensgardisten heran und zogen den bewusstlosen Mann aus der Gefahrenzone.
Favulkos zog seine Ordensklinge und wollte sich daran machen, in den Nebel zu laufen. Ignatus hielt ihn auf. »Seid ihr verrück. Ihr bleibt hier an meiner Seite. Mein Schutz ist euer Dienst.«
Etwas Großes rückte aus dem Nebel hervor. Es war eine krakenartige Silhouette, welche sich seltsam wankend aus den Schwaden schälte. Sie bewegte sich mithilfe einiger ihrer Schlingarme. Inmitten des langgestreckten Krakenkörpers saß ein gewaltiges Auge, das sie boshaft anglotzte. Täuschte sich Ignatus oder wurde die Kreatur immer massiger?
»Zielt auf das Auge!«, befahl Favulkos.
Einige Ordensgardisten hatten Arkebusen aufgestellt und feuerten nun auf das Untier. Als ob das Wesen die drohende Gefahr verstanden hätte, schloss es das Augenlid. Die abgefeuerten Kugeln prallten an der widerstandsfähigen Haut des Kraken ab. Voller Panik rannten die Geschichtenerzähler aus dem Saal, so dass schließlich nur noch er, Favulkos und die Gardisten zurückblieben.
Wieder schnellten die Fangarme nach vorne. Ignatus sah, dass die Extremitäten übersät mit Saugnäpfen waren, an denen die Soldaten wie Insekten in einem Spinnennetz einfach kleben blieben.
Mit dem Mute der Verzweiflung versuchten die Ordensmänner die Tentakel durchzuhacken, scheiterten aber an der dicken Haut des Monsters. Die gesamte Kreatur nahm zunehmend an Substanz zu, wurde muskulöser und massiger.
»Bei den Göttern, das Vieh wächst«, fluchte Favulkos.
Der Krake öffnete erneut sein Auge und ließ den Blick im großen Saal schweifen. Schließlich blieb es an Ignatus hängen. Der Ordensabt spürte, dass diese Kreatur wusste, dass er das Buch geöffnet hatte. Aber seltsamerweise schien ihn das zu schützen, denn das Untier drehte ab, wandte sich den Gardisten zu.
Favulkos hielt es nicht länger an seiner Seite aus. Er sah seine Männer sterben. Und auch wenn der alte grauhaarige Ordensritter stets loyal zu ihm stand, so konnte er es dennoch nicht mit ansehen, wie einer nach dem anderen dem Schattenkraken zum Opfer fiel.
Im Vertrauen auf seine gelblich schimmernde Ordensklinge, geschmiedet aus arkanem Metall, trat er furchtlos nach vorne.
Eine zweite Salve donnerte durch den Saal, traf den Kraken, ohne diesen zu verletzen. Der Ordensritter wartete ab, bis sich ein Tentakel auf ihn zuschlängelte und hieb mit dem Schwert zu. Voller Schmerz brüllte die Kreatur auf. Aus einem feinen Schnitt floss träge dunkelschwarze Flüssigkeit.
Favulkos sprang zurück und wich dem nach ihm schnappenden Fangarm aus.
Ignatus hielt den Atem an. Auch wenn die goldene Klinge durchaus mehr Erfolg gehabt hatte wie die Steinkugeln der Arkebusiere und die Schwerter der Gardisten, so war es immer noch zu wenig, um etwas ausrichten zu können.
Während sich das Untier, verletzt durch Favulkos Ordensklinge, wieder in den blauen Nebel zurückzog, gab dieser Befehl auszuschwärmen.
»Sobald ihr freies Schussfeld auf das Auge habt, versucht euer Glück. Wir sind der Orden, uns ist der Sieg.«
Die Gardisten, aufgemuntert durch die Worte des Ritters, scharten sich in weitem Bogen um den wabernden Nebel, achteten auf jede Bewegung im Dunst und hielten ihre Flinten im Anschlag.
Erneut klatschte ein Fangarm aus dem trüben Inneren und angelte nach einem Gardisten. Dieser wich aus und schlug mit dem Schwert zu. Auch wenn der Hieb letztendlich keine Wirkung zeigte, heulte die im Nebel verborgene Kreatur empört auf.
»Sie wird gleich herauskommen.« Favulkos Blick schweifte über die Reihen seiner Leute. »Zielt auf den Kopf.«
Doch der Krake blieb vorsichtig, schickte stattdessen immer wieder einige Fangarme aus, um nach Gardisten zu greifen. Auch die Anzahl der Tentakel schien stetig zu wachsen.
Ignatus fiel ein Stein vom Herzen. Mittlerweile gewann er den Eindruck, dass Favulkos die Situation unter Kontrolle bekam. Zudem strömten weitere Arkebusiere in den Saal und bezogen Stellung. Drei Gardisten rollten ein Pfeilkatapult, einen Skorpion durch das Tor, richteten es auf den bläulichen Nebel aus.
Und dann kam das Biest heraus gefegt, warf sich auf mehrere Bewaffnete. Es hatte sein Auge geschlossen und griff blindlings um sich. Der alte Ordensritter gab Befehl das Feuer zu eröffnen. Kugeln prasselten auf die Kreatur ein, ließen sie zurückweichen.
Das Geschoss aus dem Skorpion traf das Untier seitlich am Kopf und riss eine tiefe Furche. Das Auge der Krake öffnete sich, fixierte das Katapult. Zwei Fangarme schnellten darauf zu, zertrümmerten es und fegten die Artilleristen zur Seite.
Weitere Tentakel, dutzende, wirbelten durch die Luft, schleuderte Gardisten, die nicht schnell genug auswichen gegen die Wände des Saals. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken, als er Knochen knacken hörte.
Ein undeutlicher Schemen taumelte aus dem Nebel, zog eine am Boden liegende Person hinter sich her. Ignatus glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als er in der Gestalt die kräuterkundige Druidin erkannte.
»Vorsicht Cyriana!«, schrie Favulkos.
Die Bluthexe wirbelte herum. Sie schien nicht einmal überrascht, als ihr Blick auf den Kraken fiel. Die Kreatur spürte, dass etwas in ihrem Rücken aus dem Nebel gekommen war, und wandte sich um.
Mit all seiner Kraft schleuderte Favulkos sein Ordensschwert in das glotzende Auge. Diesmal reagierte der Kraken zu spät. Bis zum Heft bohrte sich die Klinge in das Innere des Untiers. Augenblicklich krachte das Geschöpf sterbend zu Boden. Die Tentakel erschlafften.
»Bitte helft mir, sie stirbt sonst«, ächzte Cyriana und meinte nicht den Kraken.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasyBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...