Aussprache

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Der Geruch nach Meer, nach jenem untrüglichen Gemisch aus Fisch, Algen und Salz, umwehte sie, ließ sie die Augen öffnen.

Sie lag in einem schlichten Bett in einem abgedunkelten, karg eingerichteten, einer Bauernstube ähnelnden Raum. Die frische Brise kam durch eine geöffnete, einfache Holztür, die hinaus auf eine Klippenlandschaft führte.

Am Himmel krächzten einige Seemöwen.

Entschlossen schlug sie die grobe Leinendecke zur Seite und stand auf, suchte sekundenlang wackelnd nach einem Halt. Schließlich stakste sie etwas unbeholfen zu der offenstehenden Tür. Ein sanft abfallender Weg führte an mehreren Felsen vorbei, hinab zu einem sandigen Strand, gegen den etwa hüfthohe Wellen brandeten. Die aufgehende Sonne stand im Osten knapp über den Horizont und tauchte die Silhouette einer nahegelegenen Stadt in einen vagen, rötlichen Schein.

Über den hohen, steinernen Häusern und Türmen schwebte eine dunstige Wolke.

Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumdrehen. »Dairos?«

Eine schlanke, knabenhafte Gestalt mit dunkelschwarzen, Rastalocken schälte sich aus dem Schatten eines massiven Grundofens. »Nein, Valaria, seitdem die Nuark-Qol uns alle hierherbrachte, weilt er zwar die ganze Nacht an eurer Seite, ist aber, heute am frühen Morgen, in die Kaiserfeste einbestellt worden.«

Aratica hob die Hände zum Zeichen ihrer Friedfertigkeit und trat zu ihr an die offenstehende Tür. Gemeinsam sahen sie hinaus auf die Weite des Meeres.

Valaria erinnerte sich nur bruchstückhaft der vergangenen Tage. Sie wusste noch, wie Maritobi sie zu den Laichfeldern geflogen hatte. Doch dann hatte sie das Bewusstsein verloren, war nur ab und zu aufgewacht. »Geht es ihm gut?«

Aratica warf ihr einen interessierten Blick zu und setzte ein schelmisches Grinsen auf. »Ihr scheint ihn zu mögen?«

Valaria winkte ab. »Er ist nur ein zuverlässiger Kampfgefährte.«

Die Mundwinkel Araticas zuckten. »Nun, als ich heute Morgen ihn an eurem Bett ablöste, sah er auf jeden Fall besser als ihr aus.«

Er hatte die ganze Nacht Wache gehalten? Sie freute sich darauf, ihn wieder zu sehen, sagte aber nichts.

Das Meer zog sie wie magisch an, weshalb sie hinaustrat und die frische Meeresbrise einsog. Es tat in der Seele gut. Zufrieden schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und verfolgte den Flug der Seemöwen.

»Ich erinnere mich nicht mehr an viel. Was ist in Leishas Reich geschehen?«

»Cyriana hat den Blutritus gewirkt und das schwarze Herz zerstört. Leisha ist zurückgekehrt und versucht, ihre Welt wiederzubeleben.«

Valaria verspürte einen schmerzhaften Stich und griff sich in den Rücken.

Aratica warf ihr einen ernsten Blick zu.

»Ein Kristallsplitter steckt immer noch in euch und lässt sich nicht entfernen, ist mit eurem Rückgrat verwachsen. Cyriana hat es sich angesehen, wagt aber nicht, ihn mit ihrer Magie herauszuziehen, fürchtet, ihn dadurch zu erwecken. Im Splitter manifestiert sich ein Lebensfunken der Leisha. Wenn er erwacht, kann es euer Tod sein.«

Valaria schluckte, schüttelte aber dann den Kopf, verdrängte die düsteren Gedanken, die in ihr aufstiegen. Sie setzte einen Schritt vor den anderen und schlug den Weg hinab zum Strand ein.

»Was geschah mit den Nocturnen?«

Aratica folgte ihr in wenigen Fuß Abstand. »Maritobi ist mittels eines blauen Buchs in Leishas Reich gereist. Er wollte bei den Überlebenden seines Volks bleiben. Ördir und Taquaia starben am Fuße der schwarzen Felsformation. Xarop ist untergetaucht.«

Sie erreichten den Strand und Valaria setzte sich in den warmen Sand, sah sehnsüchtig hinaus auf das Meer. »Wisst ihr, ob es meinem Volk gut geht?«

»Seid unbesorgt. Als Maritobi euch mehr tot als lebend bei Nuark-Qol ablieferte und uns das Buch ebenfalls dorthin brachte, sah ich erste neue Seeäpfel auf den Laichblättern austreiben.«

»Und warum bin ich dann hier?«

»Das war eine Entscheidung eurer Mutter und Lajetan willigte ein. Ihr seid nun offizieller Gesandter der Nebelsirenen. Die Hütte dort ...« Aratica deutete den Weg, den sie genommen hatten hinauf. »... ist euer zukünftiges Domizil. Cyriana bat darum, euch eine Bleibe am Meer zu geben, außerhalb der ... stinkenden Stadt.«

Über ihren Rücken fuhr ein eisiger Schauder. Niemand hatte sie gefragt, was sie wollte. Ihr Volk brauchte sie doch. Andererseits war sie nun eine Erdgängerin und war nun an das Land gebunden. Die Nebelsirenen hatten noch nie dauerhaften Kontakt zu den Menschen gesucht. Was hatte sich geändert?

Aratica sah, wie sich ihre Stirn runzelte, denn sie ließ sich nun neben ihr in den Sand gleiten. »Sie hatte keine andere Wahl.«

Valaria schloss die Augen und verstand. »Es geht um den Dryadenturm?«

Das Schweigen der Assassine war beredter als Worte. Sie hatte damals mit Ribhar zusammen die Schattenkobolde im Turm freigesetzt. Das Wahrzeichen war eingestürzt, wobei viele Adelige den Tod fanden. Die Mächtigen im Nachbarreich würden das nicht auf sich ruhen lassen.

Dadurch, dass die Nuark-Qol sie als Botschafterin im goldenen Reich installierte, würden die Dryadengrüns nicht auf das Meer blicken und ihr Volk jagen, sondern hierher. Irgendwann würde man sie ausliefern. Ein Bauernopfer, um die Gemüter zu beruhigen.

Ribhar war dort gestorben, daher blieb nur sie übrig.

... Ribhar ...

Sie richtete ihren Blick auf die Mörderin ihres Laichbruders. »Seid ihr hier, um mich zu töten?«

Aratica schüttelte den Kopf. »Wann ich das gewollt hätte, wäret ihr bereits tot. Nein, ich bin hier, damit wir uns aussprechen.«

Valaria horchte in ihren Körper. Sie fühlte sich noch viel zu schwach, um zu kämpfen und ... sie war überraschenderweise auch gar nicht bereit dazu. Aber der knabenhaften Assassine vergeben? Es fiel ihr schwer. »Ihr steht der Najadengöttin sehr nahe, Aratica. Ich werde nichts gegen euch unternehmen, es aber niemals vergessen.«

»Es war ein fairer Kampf, Valaria. Hätte ich ihn nicht aufgehalten, hätte er Cyriana getötet.«

Ja, das mochte wahr sein. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass Ribhar letztlich gegen die frühere Yenraven hätte bestehen können, zu mächtig war die Hexe. Aber, es war sein Auftrag gewesen. Sie sah hinüber zur Kaiserfeste, deren Konturen im Dunst des morgendlichen Nebels vage sichtbar waren. Dort weilte Dairos.

Das war wichtig.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt