Aratica sah voller Widerwillen auf die kleine Armbrust, die ihr der Waffenmeister in die Hand gedrückt hatte. Sie war fleckig, am Griff fast schon schmierig. Doch am allerschlimmsten war, dass sie die Ausgewogenheit eines groben Holzscheits besaß. Vermutlich hätte der Baum, wenn er erfahren hätte, was einst aus seinem Stamm gefertigt werden würde, sich selbst abgefackelt, um diesem Schicksal zu entrinnen.
Wie sollte man damit irgendetwas treffen? Kurz überlegte sie sich, den primitiven Schussprügel einfach fallenzulassen. Der Waffenmeister bemerkte wohl ihr Zögern, denn er kehrte zu ihr zurück und funkelte sie böse an. »Was ist?«, fauchte er.
Sie sah auf, fasste Armbrust am unteren Ende des Kolbens und streckte sie dem Mann am langen Arm entgegen. »Umtausch?«
Im ersten Moment hatte es den Anschein, ihr Gegenüber würde ihr die Waffe abnehmen, doch er besann sich, furchte stattdessen die Stirn und legte seinen Kopf etwas zur Seite. »Ich hätte noch eine silberne Armbrust eines Meisterschmieds aus Juttlingen, die in den Gemächern des Regenten an der Wand hängt«, säuselte er.
»Oh.« Endlich verstand jemand ihre Nöte. »Gerne. Könnt ihr sie mir bringen?«
Ein breites Lächeln legte sich über seine Züge. Überraschenderweise wirkte es gar nicht so freundlich, wie es seine blitzenden Zähne vermuten ließen. »Ich werde es gleich veranlassen. Darf es noch etwas sein? Ein paar Bolzen mit goldverzierten Spitzen?«
Seufzend lehnte sie ab. »Nein, ich habe verstanden.«
Gerade als der Mann zu einer geharnischten Schimpftirade anheben wollte, tippte eine schlanke Gestalt ihm auf die Schulter. »Habt ihr schon die Projektile verteilt?«
Der Waffenmeister wirbelte erbost herum, erstarrte dann jäh, als er in dem Fragesteller Prinz Kendar erkannte. »Nein, aber diese ... diese ...«
Sein Gegenüber setzte ein wissendes Lächeln auf. »Ist gut, gebt jedem Soldaten zwei Bolzengürtel. Ich kümmere mich um diesen speziellen Fall hier.«
Verdrossen verschwand der Mann aus dem Raum. Aratica warf einen Blick auf ihre Leidensgenossen. Fast alle hatten Leinenbänder an die Haken des Kolbens angebracht und schlangen sich die Armbrüste über ihren Rücken. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, denn der Aufbruch in Leishas Welt stand unmittelbar bevor. Keiner achtete auf sie.
»Was sucht ihr hier, Aratica?«
Sie warf Kendar einen zweifelnden Blick zu. Der junge Prinz stand zwar unter dem Einfluss Siquotans, hatte sie aber nicht verraten, als er sie im großen Saal entdeckt hatte. Jeder, der von dieser Magie gleich der Beute einer Spinne eingewoben wurde, nahm den Multiplex als einzige moralische Instanz wahr, glaubte ihm jegliches Wort. Sogar Cyriana war ein Opfer des Nocturnen geworden, ein Spielball in seinen Händen. Glücklicherweise wurde man nicht gänzlich zum tumben Befehlsempfänger, sondern sah nur alles, was der Meerelf tat in einem strahlenden Licht. Deswegen hatte Kendar sie nicht verraten. Aber was wäre, wenn sie sich offen gegen das Nocturnenpack wenden würde.
»Ich will sehen, ob Siquotans hehre Worte wirklich wahr sind.«
Der junge Prinz senkte mitleidig seinen Kopf und atmete tief durch. »Ihr seid viel zu misstrauisch. Hört nicht auf euren Verstand, sondern auf euer Herz.«
Jäh kam die Erinnerung zurück. Ähnliche Worte hatte sie schon einmal gehört. Damals, als Calmenwein sie stählte, um den Anforderungen gerecht zu werden, um in einer Welt zu überleben, die nur aus Lug und Trug bestand.
Sie liefen den Weg entlang, bis Hagron die Hand hob. »Warte!« Er hielt inne, nahm seinen Rucksack vom Rücken und holte das Seil hervor. »Gib mir deins.«
Sie zögerte nicht, löste den zusammengerollten Strick von ihrem Gürtel und reichte sie ihrem Begleiter.
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Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe (Band 2)
FantasiaBand 2 Nach den Ereignissen im Schattenwald hat sich Cyriana, verborgen vor den Augen des Ordens, im Norden Dryadengrüns niedergelassen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Mysteriöse Träume suchen die Hexen heim und als Aratica entführt wir...