Flucht

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Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem er die Lichtung am Hexenstein verlassen hatte, aber Barut-al-Zavid spürte, dass er weiterhin verfolgt wurde. Wie es der unscharfe Mann schaffte, ihm auf den Fersen zu bleiben, blieb ihm ein Rätsel. Die drohende Gefahr hing weiter wie ein dunkler Schatten über ihm.

Die schmalen Trampelpfade hatte er längstens schon verlassen. Er wäre orientierungslos durch das dichte Gebüsch geirrt, wenn ihn nicht immer wieder eine Stimme angeleitet hätte.

Und dies beunruhigte ihn noch weitaus mehr, als es der unscharfe Mann tat.

Halikarnosa führte ihn westwärts durch den Wald. Die Göttin war erwacht und begann sich zusammenzusetzen. Dem Hohen Meister wurde schmerzlich bewusst, dass er es gewesen war, der diesen Prozess erst eingeleitet hatte. Er hatte sie zurückgeholt. Von nun an war er verantwortlich für jedes Leben, das in ihrem Würgegriff starb.

»Links«, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. »... und belastet euch nicht mit Dingen, die noch nicht geschehen sind ... ehe sie eintreten.« Sie lachte glockenhell.

Die Stimme der archaischen Göttin klang selbstbewusst und überlegen. Ihre jetzige Hilfe war verstörend. Sie standen keinesfalls auf der gleichen Seite. Barut hatte den beiden Schwestern, Yenraven und Ultiane die Augen geöffnet und sie dem Einfluss Halikarnosa entzogen. Kaum vorstellbar, dass sie geläutert war und ihm verzieh.

Nur die Sorge um Cyriana vereinte sie.

Einige Waldaffen brachen vor ihm aus dem Gebüsch, beachteten ihn gar nicht, folgten stattdessen seinem alten Pfad zurück Richtung Hexenstein, trampelten ihn aus und bildeten neue Wege.

Sie verwischen meine Spuren, durchzuckte es den Hohen Meister. Halikarnosa gewann minütlich mehr an Macht. Einst hatte sie über den ganzen Wald geherrscht. Sie würde ihn wieder unter ihre Kontrolle zwingen. Ihn fröstelte, als ihm bewusst wurde, was dies für die Gehöfte am Rand des dunklen Forsts bedeuten konnte.

»Lauft«, erscholl eine warnende Stimme in seinen Gedanken. »Ich kann ihn nicht täuschen. Es ist kein Mensch, es ist ein Geschöpf des Walds.«

Barut-al-Zavid beschleunigte sein Tempo. Irgendwo hinter ihm heulte ein Waldaffe schmerzerfüllt auf. Er war versucht, Kaspians Stein wieder in die Hand zu nehmen. Doch dann würde er es auch Halikarnosa erschweren, ihn wahrzunehmen ..., sobald er nicht mehr aktiv an sie dachte.

Und ohne sie gab es keinen Weg aus diesem dunklen Wald.

Er brach durch dorniges Gestrüpp, stolperte und klatschte in das seichte Wasser eines Waldsees, sah auf. Direkt vor ihm breitete sich einer jener gefährlichen Seen und Tümpel des dunkeln Forsts aus. Stille Gewässer von denen Wanderer immerzu nur leise murmelnd zu erzählen wagten. Der Tod lauerte in den nassen Fluten.

»Schwimmt.«

Alles in ihm sträubte sich dagegen in das schlammige Wasser zu springen. Sein Blick schweifte zu seiner Linken. Dichtes Gebüsch säumte das Ufer, streckte ihm dornige Äste drohend entgegen. Kein Durchkommen ...

In seinem Rücken bogen sich die Stämme zweier mächtiger Eichen, als wären es dürre Halme im Wind, zur Seite. Das dunkel schimmernde Wasser, in dem sich die toten Bäume des Schattenwalds unheilvoll spiegelten, lag wie ein lauerndes Raubtier vor ihm.

Mit weit ausholenden Schritten lief er die lichtere Uferböschung zu seiner Rechten entlang. Dicht neben ihm brach ein wabernder Schemen aus dem Wald hervor. Wieso war sein Verfolger nur so schnell?

Der Schatten fegte heran. Es gab keinen anderen Weg. Barut-al-Zavid schnellte im letzten Moment herum und warf sich in das schlammige Wasser des Sees.

Einige grüne Lianen packten ihn, umwickelten Beine und Oberkörper. Gleich einer alles verschlingenden Woge griff die Panik nach seinen Geist. Verzweifelt riss er an den Schlingpflanzen, trampelte wild um sich. Doch unbeeindruckt zogen sie ihn immer tiefer in den dunklen Schlund des Teichs hinab.

Etwas griff nach seinen Arm, umschlang auch den Zweiten und presste beide dicht an seinen Körper.

»Lustig«, erklang Halikarnosas erheiterte Stimme in seinem Geist. In rasendem Tempo schien sich die Göttin zu erholen, verließ ihren katatonischen Dämmerzustand. »... und so hilflos ...«

Etwas presste ihm die Luft aus der Lunge. Starb er nun?

»Noch nicht ... auch wenn ich durchaus daran Gefallen finden würde.«

Eine Schlingpflanze ruckte heran, bohrte sich durch seinen geschlossenen Mund hinein in seine Lunge. Etwas stach tief in seine Brust. Sogleich spürte er einen frischen Luftstrom, den die röhrenartige Pflanze in ihn hineinpumpte.

Über sich sah er das wabernde Wesen, eine unscharfe Silhouette, wie es auf der Wasseroberfläche lief, ohne darin einzusinken. Es suchte nach ihm. Aber es war nicht in der Lage zu ihm zu gelangen. Was für ein Geschöpf war das nur?

»Letzter Sohn eines untergegangenen Volks«, orakelte Halikarnosa leise.

Ob die erwachte Göttin tatsächlich mehr wusste? Der Hohe Meister war sich dessen nicht sicher.

Die Schlingpflanzen bugsierten seinen umschlungenen Körper über den Seeboden zum jenseitigen Ufer. Mehrmals verschwand die röhrenartige Liane aus seinem Mund, nur um gleich darauf von einer anderen ersetzt zu werden. Jedes Mal war ihm, als würde die Lunge mit herausgerissen werden. Fast schien es ihm so, als handle die Pflanze absichtlich so grob.

»Sterben wäre zu früh, Hoher Meister, aber Leiden ist durchaus angemessen«, flüsterte ihm Halikarnosa ins Ohr. Er erschauderte. Die archaische Göttin hatte nicht vergessen, welche Rolle sein Vorfahr im einstigen Hexenkrieg gespielt hatte.

»Es erhofft sich Antworten von euch. Ihr müsst etwas gesagt oder getan haben, was es aufgeschreckt hat.«

Siedendheiß rann die Erkenntnis Barut den Rücken hinab. Das wabernde Wesen hatte seinen Gedanken gelauscht. Und er hatte Cyriana erwähnt. Wie befürchtet ging es also um sie.

Barut-al-Zavid schloss die Möglichkeit aus, dass das Wesen ihm aufgelauert war. Nein, es hatte überrascht gewirkt, ihn hier anzutreffen. Die unscharfe Kreatur hatte etwas von Halikarnosa gewollt, hatte Steine aus dem Hexenstein geschlagen. Es würde unzweifelhaft zur Lichtung zurückkehren, sobald die Jagd beendet war ... durch seinen Tod oder seine erfolgreiche Flucht.

»Schützt Cyriana.« Die Schlingpflanzen rollten ihn ins Dickicht des anderen Ufers, nutzen dabei jede noch so kleine Deckung aus, so dass die mysteriöse Gestalt auf dem See nichts davon mitbekam.

Behutsam robbte Barut-al-Zavid unter das schützende Dornengebüsch. Die wabernde Silhouette auf dem See hielt inne und drehte sich um die eigene Achse. Es sucht das Ufer ab, erkannte er.

Vor ihm schlängelte sich ein schmaler Pfad durch das Gebüsch. Ein iltisähnliches Wesen mit feuerroten Augen starrte ihn verdrossen, gar widerwillig an.

»Er führt euch aus dem Wald.«

Es war an der Zeit. Barut nahm erneut Kaspians Stein in die Hand und konzentrierte sich auf etwas gänzlich anderes, auf Cyriana. Was hatte der unscharfe Mann mit ihr zu tun? Warum suchten Träume das Land heim. Träume, die Hexen töteten. Wollte man die frühere Bluthexe etwa finden und ins jenseitige Reich schicken?

Er gelangte immer tiefer in den Wald hinein. Weit hinter sich hörte er ein lautes Gebrüll voller Wut, Zorn und Enttäuschung. Das schemenhafte Wesen schien ob der Entwicklung höchst unzufrieden.

Entschlossen kroch Barut-al-Zavid weiter. Er verdrängte jeglichen Gedanken an die wabernde Kreatur, jenes seltsame Wesen auf dem See und an die tödlichen Träume, kämpfte sich Schritt um Schritt voran in die Richtung, die ihm Halikarnosa zuletzt gewiesen hatte. Schließlich erreichte er den schmalen Pfad.

Das iltisartige Wesen zischte ihn böse an, drehte sich um und lief einige Fuß den kaum sichtbaren Weg entlang. Barut nahm sich ein paar Sekunden, ehe er sich mühsam aufrappelte und der Kreatur humpelnd folgte.

Er war sich sicher, dass das Iltisgeschöpf ihm einen Weg wies, der ihn zu Cyriana führte.

Nocturnenzorn - Die Legende der Bluthexe  (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt