Vergangenheit

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Keyla

Das Leben meiner Mutter und ihrer besten Freundin verlief wie in einem Film über zwei Frauen, welche in einem Kurs über englische Kunst zusammensaßen. Sie erzählten oft, besonders wenn sie das ein oder andere Glas Wein getrunken hatten, wie der schusselige Dozent sie zum Lachen brachte und somit das Eis zwischen ihnen gebrochen war. Den Rest erledigte das Schicksal, sodass sie zufällig im selben Café saßen oder durch Zufall auf dem gleichen Wohnheimflur landeten.

Sie wurden unzertrennlich, was den Beginn einer wundervollen Freundschaft schaffte, welche bis heute anhielt.

Kurz vor dem Abschluss als Kunstdoktorin entschied sich meine Mom Izabell in die inspirierende Stadt Paris ziehen zu wollen. Ein weiter Weg, von England nach Frankreich, aber für die beiden Freundinnen nur ein kleiner Luftsprung in ein neues Leben. Eine Welt zwischen Croissants und Baguettes, mit dem Duft nach Primeln. Angekommen in Frankreich fanden sie nach langem Suchen eine Räumlichkeit für ihre Kunstgalerie der gehobenen Klasse, also Millionäre.

Bei der einen oder anderen Party trafen sie Männer, ließen sich das Herz brechen oder wie Valentina, die sich schwängern ließ. Noch in der Schwangerschaft, zwei Jahre vor meiner Geburt, traf sie ihren Traummann, beinahe zeitgleich mit meiner Mutter. Zu ihrem Glück akzeptierte er das fremde Kind und zog es wie sein eigenes auf. Und wie der Zufall es so wollte, gab es zwei Reihenhäuser gegenüber zu verkaufen, was schließlich zu meinem und seinen jetzigen zu Hause wurde. Mit dem kleinen Nachteil, der Balkon.

Wir wuchsen wie Geschwister auf, zwei Jungs und zwei Mädchen. Wie eine große Familie, unwissend, dass bei mir und Roi dieses Eis nie gebrochen wurde. Wir hassten uns ab dem Moment, wo wir uns das erste Mal in die Augen gesehen hatten. Ich war ein Baby und doch spürte ich die Abneigung zu ihm, genau wie er.

Roi war immer, zumindest bis zum letzten Sommer, ein Muttersöhnchen. Gut gekleidet, erledigte seine Schulaufgaben direkt nach Schule und schlich sich nur selten zum Feiern hinaus. Damals bei einem Schulprojekt, mit der Oberstufe, mussten wir Kröten sezieren und ausgerechnet Roi, mein nerviger Nachbar, war mein Projektpartner. Ich wollte gerade das Skalpell ansetzen, da sprang ein noch lebender Frosch auf den Tisch und ich schrie wie ein kleines Mädchen, welches Angst vor einem Frosch hatte. Niemandem interessierte es, dass ich mich erschrocken hatte. Seit jeher nannte mich Riii, sein Spitzname, weil ich seinen richtigen Namen als Kind nicht aussprechen konnte, Kröte. Auf jeden Fall heulte ich mich abends bei meiner Mutter aus, die es wiederum bei Valentina petzte und Roi dazu brachte sich schmeichelhaft vor beiden Familien bei mir zu entschuldigen. Keine Minute später erreichte mich eine SMS.

Roi [17:21]: Kröte

Versteht ihr jetzt, warum ich ihn hasse? Nein?
Gut, dann noch kurz ein paar weitere Gründe.

Er stellt mir nicht selten ein Bein, nur das eine Mal, da bin ich ins Schlendern gekommen und vor der gesamten Schülerschaft in eine Pfütze gefallen.

Ein anderes Mal, hat er meine Sporthose ausgetauscht und ich bekam eine schlechte Note, weil ich mit seiner Boxershorts nicht teilnehmen wollte.

Vor zwei Jahren beim Festessen an Weihnachten, verkündete er, dass ich einen Freund und mein erstes Mal hatte. Noch schlimmer, er flunkerte, dass ich ihn drum gebeten hatte, einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Das Drama war natürlich groß. Man vergisst, dass ich ihn sowas nie im Leben fragen würde.

Also, sollten diese Gründe nicht reichen, werdet ihr es selber noch erfahren.

Aber wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei dem Muttersöhnchen, was er plötzlich nicht mehr war. Denn noch während der Schulzeit hatte sich Roi Geld für eine Weltreise zusammengespart und nutzte diese Chance, als er seinen Abschluss endlich in der Tasche hatte. Ende des Sommers holten sein Bruder und ich, durch einen unglücklichen Zufall den unbeliebten Nachbarn ab. Nur, dass mir die Kinnlade hinunter klappte, da ich ihn so niemals wiedererkannt, wenn er uns nicht angesprochen hätte.

Roi, der hässliche Junge, wurde zum unverschämt gut aussehenden Mann. Seine dunklen Haare, statt kurz und ordentlich gekämmt, waren jetzt an den Seiten kurz und oben lang. Einzelne Strähnen klebten an seiner verschwitzen Stirn, was in mir das Bedürfnis erweckte, sie zur Seite zu streichen. Mein Blick damals glitt weiter hinunter und scannte jeden einzelnen Zentimeter. Die kleinen Tätowierungen unter seinen Augen, am Hals, an seinen Armen und Händen. Kurz stoppte ich bei seinem Bauch, denn ich glaubte mich zu versehen, aber da schimmerte ein Sixpack hindurch, wo sonst ein kleines Bäuchlein war. Verdammt.
Seine helle, schlichte Kleidung war von nun an schwarz und rockig, was seine Erscheinung perfekt abrundete.

Und seitdem Tag am Flughafen muss ich ihn ständig anstarren, was er natürlich regelmäßig kommentierte, doch konnte ich das flattern im Bauch kaum ignorieren, so stark war es. Seine Erscheinung hatte mich in den Bann gezogen und ließ mich versaut darüber träumen, wie seine Haut oder seine Küsse sich anfühlen müssten.

Ich drifte ab...

Remi und ich waren in der Zwischenzeit 17 geworden und hatten das letzte Schuljahr vor uns, bevor es in die Ausbildung oder auf die Uni ging.

Der Sommer hatte begonnen, die Schulglocke ertönte und ließ uns in die Welt hinaus. In den letzten belanglosen Sommer, den ich wie immer mit meiner besten Freundin Zoe verbrachte.

𝗲𝗶𝗻𝗲𝗻 𝗟𝘂𝗳𝘁𝘀𝗽𝗿𝘂𝗻𝗴 𝗲𝗻𝘁𝗳𝗲𝗿𝗻𝘁Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt