Einbruch

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Roi

In der Stille der Nacht, mit offenen Augen und einem schweren Herzens, lag ich im Bett und betrachtete die weiße Decke meines Zimmers. Gedanken und Sorgen wirbelten in meinem Kopf, hinderten den Schlaf daran, mich zu umarmen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits zwei Uhr war. Die Nacht schien endlos zu sein, während in der Ferne die gedämpfte Musik von feiernden Nachbarn zu mir drang. Wie gerne wäre ich in diesem Moment genauso frei und unbeschwert wie sie. Doch die Erinnerung an mein Verhalten gegenüber dem Mädchen von gegenüber lastete schwer auf meiner Seele.

Ich versuchte, mich auf die Seite zu drehen, aber es fühlte sich nicht richtig an. Die andere Seite war genauso unbequem. Also kehrte ich zurück auf den Rücken, doch auch dort konnte ich kaum Ruhe finden. Askan sah mich mit einem fragenden und zugleich genervten Blick an. Ich realisierte, dass meine Unruhe nicht nur mich, sondern auch ihn vom Schlaf abhielt.
„Tut mir leid, mein Großer", ich tätschelte ihn zwischen seinen Ohren, die Stelle, welche er abgesehen vom Bauch am meisten genoss.

Askan legte seinen Kopf schief, eine Geste, die er oft machte, wenn er mir zuhörte. Ein hörbares Aufatmen entwich mir, bevor ich ihm von dem Vorfall im Keller erzählte. Seine Augen verrieten sein inneres Verständnis, während er sich gedanklich die Pfote vor die Stirn schlug. Zustimmend nickte ich und richtete mich nun vollständig auf, den Rücken an die Bettwand gelehnt. Askan kuschelte sich zwischen meine Beine, sein Kopf ruhte auf meinem Bauch, und er sah schuldbewusst zu mir auf. Er war mein treuer Gefährte, der meine Gefühle oft besser verstand als ich selbst. Offenbar war dies auch Keyla bewusst, denn ihre Worte trafen mitten ins Herz und ließen mich nicht los.

„Dein Herrchen hat heute ziemlich Blödsinn gebaut", was war nur in diesem Keller passiert? Ich fühlte mich plötzlich so anders. Nicht nur schuldig. Um mein Herz hatte sich ebenso eine angenehme Wärme gelegt und als mein Bruder Keyla geküsst hatte, war da ein stechender Schmerz. Es waren so viele neue Eindrücke, welche ich nicht verarbeitet bekomme. Irgendwie war alles neu für mich, aber gleichzeitig vertraut. Es war verwirrend.

Als meine Augen schwer wurden und ich kurz davor war, in den Schlaf zu gleiten, bewegte sich Askan plötzlich schlagartig. Er sprang vom Bett, sprintete zur Balkontür und kratzte mit seinen Krallen an dem Glas. Sofort lief ich ihn hinterher, denn etwas stimmte nicht. Ich öffnete die Tür, um mit ihm nachzusehen, aber unsere Straße war wie ausgestorben, nur die vereinzelten Stände von heute waren noch vorhanden. Mein Blick löste sich von der leeren Straße und fiel automatisch geradeaus, wo der Wind die Balkontür vom Keyla aufgedrückt hatte. Es war ihre nervige Angewohnheit, im Sommer wie im Winter mit offenem Fenster zu schlafen. Doch sie schlief nicht ruhig, das war offensichtlich. Es waren die Alpträume, die sie plagten, das bemerkte ich sofort.

„Askan, geh rein und schlaf", er hörte sofort, legte sich in mein Bett, wo ich auch sein sollte, aber statt ihm zu folgen, lehnte ich ein Bein über das Geländer. In der Vergangenheit hätte ich sowas nie getan, mich nicht herausgeschlichen, aber ich war jemand neues. Ich war immer noch unsicher, wer oder wie ich eigentlich sein wollte. Meine Mutter nannte es eine Phase der Selbstfindung, aber ich hatte das Gefühl, dass mir ein Platz in der Gesellschaft fehlte. Ich konnte mich nirgendwo einordnen oder mich den anderen anpassen. Ich sehnte mich danach, anders zu sein, wusste aber nicht genau, wie anders.

Mit gemischten Gefühlen joggte ich über die Straße, machte es wie bei mir zu Hause, kletterte die Regenrinne hinauf und über das Schutzgeländer. Nun stand ich auf ihrem Balkon, betrachtete die ordentlich gepflanzten Blumen am Rahmen, die durch mich beschädigt worden waren. Dann trat ich leise hinein, an ihr Bett. Während sie sich wälzte und unverständliche Worte vor sich hin murmelte, legte ich meine Hand auf ihre Schulter. Mit bedacht rüttelte ich an ihr, doch nicht vorsichtig genug, denn Keyla schreckte sofort auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich einen Moment an, realisiert scheinbar was vor sich ging, bevor sie sich schreckhaft von mir entfernte. Keyla verfing sich in ihrer Bettdecke und bei dem Versuch sich zu entknoten fiel sie vom Bett. Ich hetzte sofort zur anderen Bettseite, reichte ihr meine Hand, die sie wegschlug.
„Was willst du hier, Roi?"

„Du hattest einen Albtraum, Kröte", gedanklich rief ich mir hervor, jetzt bloß freundlich zu bleiben, denn immerhin hatte ich etwas gutzumachen. Erneut reichte ich ihr meine Hand, welche sie dieses Mal annahm, nur um nach dem Aufstehen sich direkt von mir zu entfernen.

„Offensichtlich ist er hier in meinem Schlafzimmer", peitsche sie mir entgegen, was ein Schmunzeln auf meinen Lippen verursachte. Schlagfertig, wie immer.

„Ich wollte mich entschuldigen, Keyla", versuchte ich das neu entstandene Eis zwischen uns zu brechen, aber sie akzeptierte meinen Vorschlag nicht. Keyla ging zur Balkontür, öffnete diese bis zum Anschlag und deutete mit einer simplen Handbewegung an, dass es an der Zeit wurde zu gehen.

„Hör mir bitte zu", versuchte ich es nochmal, aber sie war schon immer etwas stur. So leicht würde ich nicht aufgeben, denn sie hielt mich vom schlafen ab. Ohne ihre Vergebung konnte ich mich nicht entspannen, also warf ich mich regelrecht auf das Bett.
„Was machst du da?"

„Ich mach' es mir bequem", ich richtete mir das Kissen her, schloss meine Augen, aber spürte gleichzeitig wie Keyla an meinem Arm zerrte.
„Geh nach Hause, Roi", sagte sie hysterisch, ihre Stimme zitterte vor Aufregung.

„Komm mit mir", entgegnete ich ihr, was sie verwirrt zu mir heruntersehen ließ.
„Zu dir nach Hause?"

„Nein, lass mich dir etwas zeigen", versuchte ich konkreter zu werden, ohne die Einzelheiten zu verraten.
„Jetzt drehst du völlig durch", kommentierte sie meine Idee.

„Mach einmal etwas, dass nicht perfekt ist, Kröte. Sei einmal nicht du selbst", sagte ich mit einem Hauch von Herausforderung in meiner Stimme, wissend, dass meine Worte sie überzeugen würden. So funktionierte sie nun mal. Sie liebte es herausgefordert zu werden. Von mir, so dachte ich zumindest. Keyla war mutig, aber nicht mutig genug. Sie konzentrierte sich zu sehr auf die Kontrolle, die sie nur behielt, wenn sie dieselben Dinge tat, wie die Nummer 7 zu bestellen beim Italiener um die Ecke.

„Okay", stimmte sie meinem Vorschlag zu, schlüpfte in ihre Sneaker, zog sich eine Strickjacke über. Erst da bemerkte ich ihr leicht durchsichtiges weißes und übergroßes Shirt und die dazu knappe Sporthose. Mir stockte der Atem, denn sie sah atemberaubend heiß aus.

„Warum bist du eigentlich über den Balkon eingestiegen, wenn unsere Eltern nicht da sind?", stellte sie mir die Frage, während wir die Treppe hinunternahmen. Ich bog noch schnell in die Küche ab und holte zwei Wasserflaschen.
„Vergessen", kommentierte ich das Wasser, aber beantwortete gleichzeitig ihre Frage.

Gemeinsam gingen wir hinaus auf die Pariser Straße, ich nur auf Socken.

𝗲𝗶𝗻𝗲𝗻 𝗟𝘂𝗳𝘁𝘀𝗽𝗿𝘂𝗻𝗴 𝗲𝗻𝘁𝗳𝗲𝗿𝗻𝘁Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt