neue Umstände

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Roi

Ich stand vor der Haustür und zögerte, meinen Schlüssel aus der Hosentasche zu ziehen. Etwas in mir hatte Angst davor, was mich erwartete. Die vertraute Fassade des Hauses, in dem ich aufgewachsen war, schien mir plötzlich fremd. Die letzten drei Jahre hatten mich verändert, und ich war mir nicht sicher, ob ich bereit war, den Konsequenzen meiner Abwesenheit ins Auge zu sehen.

Langsam atmete ich tief durch, versuchte, die Nervosität zu verdrängen, und schloss die Augen, um einen Moment der Ruhe zu finden. Doch anstatt der ersehnten Ruhe kamen die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an Keyla und an das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten. Ihre Tränen, als ich ging, und das Versprechen, dass wir in Kontakt bleiben würden. Ein Versprechen, das wir nicht halten konnten.

Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und zog den Schlüssel hervor. Das vertraute Klicken des Schlosses klang in meinen Ohren wie ein Gong, der das Unvermeidliche einleitete. Langsam öffnete ich die Tür und trat ein. Das Haus roch nach einem Mix aus frischem Kaffee und den vertrauten Düften meiner Kindheit. Doch es war still. Zu still.

„Hallo?", rief ich zögernd, meine Stimme hallte durch den Flur. Als ich keine Antwort erhielt, versuchte ich es noch einmal, aber wieder antwortete niemand. Meine Familie wusste, dass ich heute zurückkomme, doch niemand war hier, um mich in Empfang zu nehmen. Enttäuscht warf ich meine Tasche auf den Boden.

Das vertraute Haus schien plötzlich so fremd, so leer. Ich ging langsam durch den Flur, vorbei an den Bildern an der Wand, die Erinnerungen an glücklichere Zeiten zeigten. Die Stille war bedrückend. Ich seufzte tief und machte mich auf den Weg in die Küche, in der Hoffnung, dort jemanden zu finden.

„Mama?", rief ich, als ich die Tür öffnete. Doch auch hier war niemand. Ich fühlte mich verloren, als ob die letzten drei Jahre mehr verändert hatten, als ich bereit war zu akzeptieren. Gerade als ich mich abwenden wollte, hörte ich plötzlich Schritte hinter mir.

„Roi?", erklang die vertraute Stimme meines Bruders. Ich drehte mich um und sah ihn in der Tür stehen, doch kein Lächeln auf den Lippen.

„Wo sind denn alle?", fragte ich und bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, schloss er mich fest in seine Arme. Seine Umarmung war fest und tröstlich und ich nicht anders, als mich kurz darin zu verlieren.

„Ich würde dir gerne die Umstände erklären, aber ich habe es eilig." Mein Bruder löste sich aus der Umarmung, griff nach seinen Schuhen, die neben der Tür standen, und schlüpfte eilig hinein.

„Remi, warte!", rief ich ihm hinterher, aber er war bereits auf dem Weg nach draußen. Verwirrt sah ich ihm nach, wie er in das Haus verließ. Was konnte so dringend sein, dass er keine Zeit hatte, mit mir zu sprechen? Kurzerhand rannte ich ihm hinterher und stieg in letzter Sekunde in das bereits bewegende Auto.

„Kannst du mir mal sagen, was hier los ist?"

„Keyla hatte auf dem Weg zu dir einen Unfall", begann er. „Sie war so euphorisch, dass es ihr wohl schwerfiel, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Mama und Izabell sind bereits vor Ort."

„Geht es ihr gut? Sag mir sofort, ob es ihr gut geht, Remi!" Mein Herz raste und die Panik in meiner Stimme war unüberhörbar.

Remi senkte den Kopf und murmelte leise: „Sie ist bewusstlos, mehr weiß ich auch nicht, Roi. Die Ärzte wollten am Telefon nichts sagen."

Ich spürte, wie mir die Beine nachgaben und mein Herz aufhörte zu schlagen. „Ich muss zu ihr, Remi. Sofort."

„Ich fahre dich", bot er an. „Aber zunächst muss ich Maila aus dem Kindergarten holen"

„Maila? Wer ist das?" Meine Stimme zitterte vor Verwirrung, aber bevor mein Bruder antworten konnte, parkte er vor einem abgelegenen Kindergarten. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, stieg er aus dem Auto und ließ mich allein zurück. Ein paar Minuten später kam er mit einem kleinen Mädchen an der Hand zurück.

Ein kurzer Moment, ein Augenblick des Blickkontakts, und ich wusste, es war sein Kind. Diese grünen Augen, die so vertraut wirkten. Mein Herz zog sich zusammen, als ich realisierte, was das bedeutete. Ich starrte das kleine Mädchen an, unfähig, etwas zu sagen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Es war Keylas und Remis Tochter.

Unfähig, etwas zu sagen, blieb ich still, während mein Bruder das Auto wieder auf die Straße führte, eigentlich auf dem Weg zum Krankenhaus, wo Keyla war. Stattdessen bog er in eine vollkommen andere Richtung ab.

„Wo fährst du hin? Zum Krankenhaus geht es in die andere Richtung, Remi."

„Mama sagt, wir sollen nicht mit ihr ins Krankenhaus kommen, weshalb wir sie nach Hause bringen."

„Und wer soll auf die Kleine aufpassen?"

„Du!"

Mein Herz schlug schneller. „Ich? Remi, ich weiß doch gar nichts über sie!"

Remi seufzte und warf mir einen schnellen Blick zu. „Du wirst es schon hinkriegen, Roi. Maila ist ein tolles Kind und sie braucht jemanden, der auf sie aufpasst, während ich Keyla Kleidung bringe"

Ich sah das kleine Mädchen auf dem Rücksitz an. Ihre großen, grünen Augen blickten neugierig aus dem Fenster. Sie schien so unschuldig und ahnungslos, was gerade um sie herum geschah.

„Warum kann ich nicht zum Krankenhaus fahren, während du auf deine Tochter aufpasst?"

„Meine Tochter?"

„Sie hat deine Augen, Remi", erwiderte ich und spürte erneut den tiefen Stich in meinem Herzen.

Wir fuhren in Stille weiter, bis wir schließlich das Haus erreichten. Remi parkte und half mir, Maila aus dem Auto zu holen. „Mach einmal deine Augen auf, Roi und sieh, was dir die Welt bietet, wenn du nicht auf Reisen bist"

Ich nickte, unwissend, was mein Bruder mir sagen wollte, jedoch nahm ich Mailas ihre kleine Hand. „In Ordnung. Ich kümmere mich um sie."

„Sobald ich mehr weiß, werde ich mich melden", dann verschwand er. Drinnen setzte ich Maila auf das Sofa und holte ihr etwas zu trinken.

„Bist du hungrig?", fragte ich sie. Maila nickte schüchtern.

Ich suchte die Küche nach etwas Essbarem ab und fand schließlich ein paar Kekse und Obst. Während Maila aß, setzte ich mich neben sie und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.

„Ist Remi dein Papa?", fragte ich sie plötzlich und hielt ein Foto von meinem Handy ihr hin.

Das kleine Mädchen schüttelte mit ihrem Kopf. Wie alt war sie? 2 Jahre? Und woher kamen die tief grünen Augen, wenn nicht von meinem Bruder?

𝗲𝗶𝗻𝗲𝗻 𝗟𝘂𝗳𝘁𝘀𝗽𝗿𝘂𝗻𝗴 𝗲𝗻𝘁𝗳𝗲𝗿𝗻𝘁Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt