Erkenntnis

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Roi

Während ich neben Maila auf dem Sofa saß und sie Fernsehen sah, beobachtete ich sie genauer, der Grund war, ein Gedanke der sich in mich eingenistet hatte. Maila hatte sich in eine Decke gekuschelt und sah gebannt auf das Flimmern, als ob sie jeden Winkel davon in sich aufnehmen wollte. Die Art, wie sie ihre Stirn runzelte, wenn sie nachdachte – es erinnerte mich alles an mich selbst in ihrem Alter. Sogar ihre kleinen Hände, die nervös an der Decke zupften, hatten etwas Vertrautes und als sie bei einer witzigen Szene zu lächeln begann, fielen mir noch mehr Ähnlichkeiten auf.

Ich öffnete ein altes Familienfoto. Es zeigte mich, Remi und unsere Eltern, als wir noch Kinder waren. Ich drehte mein Handy zu Maila und zeigte ihr das Foto.

„Maila ... Ich", sagte die Kleine, während ihr Finger auf meine Person damals zeigte.

„Das bin ich, als ich noch klein war", antwortete ich.

Sie betrachtete das Bild einen Moment lang und dann mich. „Maila", wiederholte sie.

Ich betrachtete meine Augen von früher, die viel stärker glänzten, als jetzt, so wie Maila ihre heute. Ich lachte leise. Bestand die Möglichkeit, dass Maila meine Tochter war?

Maila lächelte erneut bei einer Szene im Fernsehen und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Es war, als ob ich in einen Spiegel sah, der mich in meine eigene Kindheit zurückwarf. Die Ähnlichkeit war verblüffend, nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrer Art und Weise. In diesem Moment wurde mir klar, wie tief die Verbindung zwischen uns wirklich war. Sie war nicht nur irgendein Kind – sie war ein Teil von mir, auf eine Weise, die ich nie erwartet hatte. Die Erkenntnis traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich einen Kloß im Hals spürte.

Plötzlich öffnete sich die Tür zu Keylas Wohnung, und mein Herz machte einen Sprung. Für einen kurzen Moment hatte ich die Hoffnung, dass ich sie wiedersehen würde. Doch als die Tür sich ganz öffnete, musste ich enttäuscht feststellen, dass es nur mein Bruder war, vollgepackt mit Pizza in der Hand.

„Ich dachte, du könntest etwas zu essen gebrauchen", sagte Remi und stellte die Pizzaschachteln auf den Tisch. Er sah kurz zu Maila und lächelte ihr zu. „Hey, Kleine. Hast du Hunger?"

Maila nickte eifrig und setzte sich an den Tisch. Remi begann, die Pizza aufzuteilen, und ich blieb noch einen Moment stehen, unsicher, was ich sagen oder tun sollte. Schließlich setzte ich mich zu ihnen.

„Wie geht es Keyla?", fragte ich, während ich ein Stück Pizza nahm.

Remi seufzte und schüttelte den Kopf. „Sie wurde ins künstliche Koma gelegt, Roi. Die Ärzte sagen, ihr Körper bräuchte Ruhe, aber ich glaube fest daran, dass sie es schaffen wird."

„Kann ich zu ihr?"

„Heute nicht mehr. Aber morgen.", beantwortete er meine Frage. Wir genossen für einen Moment die Pizza, so gut es eben ging. Remi brachte die kleine Maila anschließend ins Bett und setzte sich zu mir.

Schuldgefühle stachen wie Messer in mein Herz. „Das ist meine Schuld", flüsterte ich. „Wenn ich nicht gegangen wäre..."

„Hör auf damit", unterbrach Remi mich. „Niemand gibt dir die Schuld und das weißt du auch. Keyla würde nicht wollen, dass du dich so fühlst."

„Warum hat sie es mir verheimlicht?", sprach ich meinen tiefsten Gedanken aus.

„Kurz nachdem du weg bist, habe ich versucht, die Freundschaft mit Keyla wiederherzustellen, aber meine Gefühle waren mir im Weg. Ich dachte, du bist fort und sie allein, also probiere ich es nochmal. Sie hat mich jedes Mal abgewiesen, selbst als ihr klar wurde, dass du nicht so schnell wiederkommst. Ich habe um sie gekämpft, aber sie hat immer nur dich geliebt, Roi."

Ich sah Remi an und versuchte, seine Worte zu verarbeiten. „Worauf willst du hinaus?"

Remi seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich will, dass du verstehst, wie sehr sie dich liebt. So sehr, dass sie dir dieses Kind verheimlicht hat, nur damit du deine Träume verwirklichen kannst. Es ist nicht richtig, was sie getan hat, das will ich damit nicht sagen, aber ihre Angst, dass du es für immer bereuen würdest, war größer. Also ließ sie dich los. Ich habe versucht, deinen Platz einzunehmen, obwohl sie mich so oft verletzt hat, aber es hat nicht funktioniert. Sie hat mir nie die gleiche Liebe entgegenbringen können, also wurde ich wieder ihr bester Freund und ein Onkel für Maila."

„Warum hast du mich angerufen?"

„Ich habe jeden Tag gesehen, wie sehr sie gelitten hat, während sie darauf hoffte, du würdest zurückkehren. Ich wusste, ihr braucht einander. Nachdem sie den Umzug nach London verkündet hatte, wusste ich, dass es an der Zeit war, dass du entscheidest, was dein wirklicher Traum ist."

Sein Blick war ernst, und ich konnte die Ehrlichkeit in seinen Augen sehen. „Und was soll ich jetzt tun?", fragte ich, meine Stimme rau vor Emotionen.

Remi lehnte sich nach vorne und legte eine Hand auf meine Schulter. „Ich kann dir diese Entscheidung nicht nehmen, Roi. Du musst herausfinden, was du wirklich willst. Es wird nicht einfach, aber ich glaube, du kannst es schaffen."

„Du glaubst, ich müsste mich zwischen meinen Träumen und ihr entscheiden?"

„Ja, das denke ich", sagte mein Bruder kalt.

Ich schüttelte den Kopf, fühlte den Zorn in mir aufsteigen. „Remi, das ist keine Entscheidung, die ich treffen muss. Keyla ist mein Traum. Ich liebe sie, mehr als das Reisen, mehr als meinen Job und mehr als alles andere in meinem Leben. Ich muss nicht herausfinden, was ich will, denn ich weiß es, seit dem Moment, als meine Lippen ihre berührt haben. Ich wollte nur wissen, wie ich alles wieder in Ordnung bringen kann."

Remi sah mich einen Moment lang an, seine harte Miene schmolz zu einem verständnisvollen Ausdruck. „Du brauchst kein Tipp von mir, Roi. Du weißt genau, was du zu tun hast!"

Ich nickte entschlossen.

𝗲𝗶𝗻𝗲𝗻 𝗟𝘂𝗳𝘁𝘀𝗽𝗿𝘂𝗻𝗴 𝗲𝗻𝘁𝗳𝗲𝗿𝗻𝘁Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt