Mut

195 19 58
                                    

Keyla

"Roi, ich schaffe das nicht", flüsterte ich, meine Lippe bebte, während der Wind hier oben stärker wehte. Roi legte beruhigend seine Hand auf meinen Rücken.
„Du schaffst das, vertrau mir"

Als das Klicken des Karabiners erklang, durchzuckte mich eine große Welle der Angst und ich begann mich zu winden. Der Gedanke, den Sprung zu wagen, war überwältigend und mein Herz raste vor Aufregung und Furcht zugleich. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, aber es gelang mir nicht. Mein ganzer Körper zitterte und ich kämpfte gegen die Panik an, die mich zu überwältigen drohte.

„Mach mich los, Roi"

"LOS, LOS!", rief ich panisch, meine Stimme von Verzweiflung durchdrungen. Ich kämpfte gegen die Fesseln an, die mich gefangen hielten und mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust.

"Beruhige dich, Keyla. Es wird alles gut werden", sagte Roi sanft, während er mich von hinten mit seinen Armen umschloss und fest an sich drückte.
"Angst zu haben ist normal", fuhr er fort. "Aber glaube mir, die Angst, die du jetzt fühlst, wenn du am Abgrund stehst, ist in Wahrheit eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht danach, loszulassen, sich frei zu fühlen, die Arme auszubreiten und zu fliegen. Also lass die Angst nicht dein Leben verkleinern, sondern durch Mut vergrößern. Du bist stärker, als du denkst und ich bin hier bei dir. Gemeinsam sind wir stärker"

Seine Worte drangen tief in mein innerstes und berührten mich auf eine Weise, welche ich nicht beschreiben konnte. Ich spürte, wie die Angst in mir pochte, aber von der Sehnsucht langsam überlagert wurde. Mit einem schweren Seufzer ließ die Anspannung in meinen Muskeln nach und ich lehnte mich gegen Roi seine Brust.

„Gemeinsam werden wir es schaffen", wiederholte ich leise, während ich mich darauf konzentrierte, meinen Geist zu beruhigen und meine Gedanken zu sammeln.

"Alles ist vorbereitet, Roi", sagte Léon hinter uns, was bedeutete, dass wir bereit waren, zu springen, wenn wir es wollten. Roi nickte und löste die Umarmung sanft.

"Alles klar, Keyla. Wir sind bereit, wenn du es bist", sagte er mit Entschlossenheit in seiner Stimme. Ich atmete tief durch und nickte ebenfalls, meine Entschlossenheit wachsend. Es war Zeit, meine Ängste zu überwinden. Ich drehte mich zu Roi um.

"Bitte halte mich fest", sagte ich, stand am Abgrund und war bereit, mich ins Unbekannte zu stürzen und meine Flügel auszubreiten.
"Selbst wenn ich es wollte, könnte ich dich nicht loslassen", sagte Roi mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und umarmte mich fest. Seine Augen fixierten meine, dann wagte er einen Schritt nach vorne.

Dann sprang er. Ein Gefühl, wie ein wilder Tanz mit der Schwerelosigkeit. Die Luft rauscht an den Ohren vorbei, der Wind peitscht um den Körper und das Herz hämmert im Takt der freien Bewegung. Alles um einen herum verschwimmt zu einem wirbelnden Farbenmeer, während man dem Boden entgegen rauscht.

Ich kniff meine Augen zusammen, spürte nur die Geschwindigkeit, wie die Erde uns wieder anzog.
„Sieh mich an, Kröte", hörte ich die raue Stimme von Roi, aber ich schaffte es nicht, auch wenn ich ahnte, dass der Ausblick wunderschön sein müsste.
„Sieh mich an", wiederholte Roi, dieses Mal etwas dominanter.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen und wurde sofort von seinen tiefgründigen Augen gefangen genommen. Sie strahlten so viel Liebe und Schönheit aus, dass ich mich verlor. Sein intensiver Blick schien mich zu durchdringen und ich spürte eine tiefe Verbindung zwischen uns. Es war, als ob seine Augen die Essenz meiner eigenen Seele widerspiegelten. Trotz des Chaos um uns herum fühlte ich mich sicher und geborgen in seinem Blick. Für einen kurzen Moment schien es, als wäre nichts anderes in dieser Welt von Bedeutung, außer uns beiden.

„Du bist wunderschön, Kröte"

-

Nachdem wir zurück in der Unterkunft waren, entschied ich mich für eine Dusche, um die übrige Angst aus meinen Knochen zu spülen und sie im Abfluss verschwinden zu lassen. Kurz darauf bedankten wir uns bei Léon und seiner Frau und verabschiedeten uns, mit dem Versprechen, bald wieder vorbeizukommen. Im Auto herrschte eine ähnliche Stille wie auf dem Hinweg. Jeder schien in seinen eigenen Gedanken gefangen zu sein. Ich dachte an seine Worte, die er mir kurz vor dem Ende des Seils und dem Ende des Sprungs gesagt hatte. Sein ungewöhnliches Kompliment verwirrte mich noch mehr, da er mir nie zuvor auf diese Weise eins ausgesprochen hatte. Vielleicht war es der Moment der Leichtigkeit, der sein Herz geöffnet hatte.

Kurz bevor wir Paris erreichten, durchbrach Roi endlich das schweigen.
„Hast du Hunger?" Er warf mir einen kurzen Blick zu und ich nickte zustimmend. Wir entschieden uns für ein gemütliches Bistro am Ufer der Seine, wo wir einen Platz draußen erhielten und den atemberaubenden Sonnenuntergang betrachten konnten. Die Silhouette der berühmten Pariser Gebäude wurde vor diesem malerischen Hintergrund perfekt konturiert, während die letzten Sonnenstrahlen über die glitzernde Seine streichelten. Es war ein Moment voller Schönheit und Magie, den wir gemeinsam genossen.

Wir bestellten beide Burger, jedoch sollte meiner ohne Käse sein. Als der Kellner mir meinen Burger mit Käse servierte, bat ich höflich darum, ihn ohne Käse zu bekommen. Der Kellner entschuldigte sich und nahm ihn zurück in die Küche, um ihn entsprechend anzupassen. Roi wartete geduldig, während der verlockende Duft des Burgers und das Knurren seines Magens eine ungeduldige Symphonie spielten. Trotz meiner Aufforderung, schon anzufangen, lehnte er ab und wandte seinen Blick stattdessen dem Fluss zu, als würde er sich ganz dem Moment hingeben wollen.

„Ich wünschte, es könnte immer so sein", hauchte Roi leise die Worte in die Welt hinaus und ich spürte, dass sie nicht für mich bestimmt waren, sondern eher für seine eigene Welt. Trotzdem weckten sie meine Neugierde und ließen mich darüber nachdenken.

„Was soll immer so sein?", unverhofft löste er sich von dem Anblick des Sonnenuntergangs und sah zu mir herüber.

„Das Gefühl von Freiheit", murmelte Roi und ich konnte es in seinen Augen sehen. Es war der Moment, in dem er wusste, wohin er gehörte und wie er sein wollte. Roi war ein Mensch, der die Freiheit liebte, der es nicht mochte, eingeschränkt zu sein und wenn doch, dann rebellierte er umso stärker dagegen. Das Problem war, dass Roi nicht jeden Tag von Erhöhungen oder Klippen springen konnte, um sich frei zu fühlen. Er wusste, dass er einen anderen Weg finden musste, um dieses Gefühl nicht zu verlieren.

„Dieses Gefühl, hier mit dir zu sitzen und nicht kämpfen zu müssen, Kröte", es wehte ein Hauch an Wehmut mit, jedoch ignorierte ich das aufkeimende Gefühl und das damit verbundene Herzklopfen.

„Worum zu kämpfen, Roi?"

„Frei in meinen Entscheidungen zu sein", seine Worte schienen durch die Luft zu tanzen, wie Glühwürmchen von einer Laterne zur nächsten. Ihr Echo spiegelte sich im sanften Fluss wider und für einen Moment war es, als ob sie ein Teil des nächtlichen Schimmers geworden wären.

"Dann sei frei und richte deine Entscheidungen nicht nach anderen aus. Sei du selbst und finde den Weg, den du dir erhoffst" Ich spürte die Bedeutung meiner Worte in der ruhigen Atmosphäre der Nacht. Es war eine Ermutigung, seine eigene Authentizität zu leben und die Richtung zu wählen, die das Herz wünscht.

𝗲𝗶𝗻𝗲𝗻 𝗟𝘂𝗳𝘁𝘀𝗽𝗿𝘂𝗻𝗴 𝗲𝗻𝘁𝗳𝗲𝗿𝗻𝘁Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt