5 | 4. Kapitel

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Mit jedem Tag, den das Ende der Ferien näher rückte, wurde mir mulmiger zumute. Die Beziehung zu meinem Bruder, der momentan dabei war, Eulenmist vom Schrank zu klauben, war in den vergangenen Tagen, beziehungsweise Wochen so gut geworden, dass mir der Gedanke, ihm schon bald wieder fernbleiben zu müssen, unheimlich weh tat. Andererseits freute ich mich, meine anderen Freunde aus Slytherin wiederzutreffen, zu denen ich über die Ferien aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt gehabt hatte.

"Alles in Ordnung mit dir?" Graue Augen waren vor meinem inneren Auge aufgeblitzt und ich hatte bei der Erinnerung an ihn unwillkürlich meine Lippen zu einem kleinen Lächeln verzogen. Bei Merlin, ich hatte ihn ganz klar vermisst. "Du schaust so komisch." Irritiert die Stirn gerunzelt, blickte Harry, auf einem Stuhl stehend, zu mir hinunter.

Ich kam nicht dazu, ihm zu antworten, da Ron just in diesem Augenblick in den Raum geplatzt kam. Die Frage war, ob ich ihm überhaupt geantwortet hätte, schließlich wusste ich um das gespannte Verhältnis der beiden. "Die Bücherlisten sind angekommen. Wird auch Zeit, ich dachte, sie hätten's vergessen, normalerweise kommen sie viel früher ..."

Das vertraute Kuvert landete auf meinem Schoß. Mit zitternden Fingern hob ich es hoch und brach das rote Siegel Hogwarts'. Markus Flint, unser Mannschaftskapitän hatte letztes Jahr seine Schullaufbahn beendet und obwohl, durch das Trimagische Turnier bedingt, keine Quidditchwettkämpfe stattgefunden hatten, hatten wir das Jahr genutzt, um den Zusammenhalt innerhalb des Teams noch weiter auszubauen. Stundenlang hatten wir uns auf dem Quidditchfeld abgerackert und Flint hatte mir ziemlich bald mitgeteilt, dass er mich gerne als neuen Kopf des Teams sehen würde. Es hatte lange gedauert, bis ich, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatte. Denn ich war nicht nur die Kleinste im Team, ich war auch noch das einzige Mädchen – wobei ich schnell gelernt hatte diesen Umstand auszugleichen und ebenso präzise und hart zu werfen, wie die beiden anderen Jäger, Adrian Pucey und Graham Montague.

Hatte er seinen Wunsch durchgesetzte? Bitte Merlin, steh mir bei.

Langsam entfaltete ich das Pergament. Zweifel machten sich in mir breit – wollte ich diese Verantwortung überhaupt tragen müssen? Strategien entwickeln müssen? Doch als mir das silbern, grüne Kapitänsabzeichen entgegenfiel, verschwanden all meine Bedenken im Nichts.

"Nur zwei neue Bücher", sagte Harry, der die Materialliste durchsah. "Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 5, von Miranda Habicht, und Theorie magischer Verteidigung von Wilbert Slinkhard."

Mit einem lauten Knall tauchten Fred und George in der Mitte des Zimmers auf. Fröhlich trugen sie Überlegungen zum neuen Verteidigungslehrer auf, aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Glücksgefühle fluteten mich, während ich das Abzeichen in meiner Hand wog. Das Wappen Slytherins. Meine Verantwortung als Kapitän. Breit grinsend sah ich erneut auf, direkt in Rons aschfahles Gesicht. Den Mund leicht geöffnet, starrte er auf den Brief in seiner Hand. "Alles okay bei dir Ron?", fragte ich und drückte mich aus meiner halb liegenden Position auf dem Bett hoch.

Es kam keine Antwort. Harry und die Zwillinge waren nun ebenfalls auf den rothaarigen Jungen aufmerksam geworden und Fred klang ungeduldig, als er fragte: "Was ist los?" Er trat hinter Ron und spähte über dessen Schulter auf das Pergament.

Auch Fred klappte der Mund auf. "Vertrauensschüler?", sagte er ungläubig, um seiner Verwunderung Luft zu machen, wiederholte er es noch einmal, "Vertrauensschüler?"

Sein Zwillingsbruder stürzte vor, riss Ron den Umschlag aus der anderen Hand und schüttelte ihn aus. Etwas Scharlachrotes und Goldenes landete in seiner Hand. "Nicht möglich", hauchte George.

"Das ist ein Irrtum." Fred schnappte sich den Brief von Ron und hielt ihn gegen das Licht, als wäre er darauf aus, dessen Echtheit zu prüfen. "Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat -"

"- würde Ron zum Vertrauensschüler machen", ergänzte Georges den Satz seines Bruders und angesichts dieser Vertrautheit wandte ich den Blick ab. Es schmerzte einfach unheimlich die Beiden so zu sehen.

Bei der Suche nach etwas anderem, was ich ansehen konnte, landete mein Blick ohne mein Zutun bei Harry. Auch mein Bruder wandte den Kopf und sah mich an. Unsere Augen schienen sich ineinander zu verhaken. Grün in Braun. Die Augen unserer Eltern, nur vertauscht. Hätten wir auch so vertraut werden können? Würden wir uns so gut kennen, wie die Weasley-Zwillinge, jeden Gedanken, jeden Wunsch schon vor dem jeweils anderen kennen, wenn wir nie auseinander gerissen worden wären?

Die Luft im Zimmer schien mit einem Mal schneidend dick. Ich fürchtete, wenn ich auch nur noch wenige Sekunden länger auf meinem Platz verharren würde, den Blick mit Harrys gekreuzt, würde ich unvermittelt mit der Wahrheit herausplatzen, daher sprang ich rasch auf und drängte mich mit einer raschen Entschuldigung hinaus auf den Flur, wo ich beinahe noch mit Hermine zusammenstieß, die ebenfalls ein Vertrauensschülerabzeichen in der Hand hielt. "Was ...?"

Ich schüttelte lediglich rasch den Kopf und stürmte an ihr vorbei die Treppe hinauf. Kaum in meinem Zimmer angelangt, knallte ich die Tür zu und sank an ihr entlang zu Boden. Verflucht. Angestrengt krallte ich mir meine Nägel in die Handflächen, versuchte mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Seitdem ich kurz vor Weihnachten letzten Jahres erfahren hatte, wer ich wirklich war, hatte ich den Eindruck, einer meiner inneren Wälle sei gebrochen und seither unwiderruflich zerstört. Vielleicht gehörte die Fähigkeit, seine Gefühle für sich zu behalten, auch einfach gar nicht zu denen einer Potter. Harry standen seine Gefühle immer ins Gesicht geschrieben.

Den ersten Tränen nachgebend, schlang ich beide Arme um meine angezogenen Knie und legte den Kopf darauf. Wieso hatte mich ein einzelner Moment so aus der Fassung bringen können? Das musste sich ändern. Spätestens in Hogwarts. Wenn ich jedes Mal in Tränen ausbrach, wenn es um meine Familie ging, könnte ich mir genauso gut ein Schild um den Hals hängen: Mariah Elisabeth Potter, die verschollene Schwester des Jungen der lebt. Neue Tränen kullerten mir die Wangen hinunter, welche ich allerdings energisch wegwischte.

Ein Klopfen ließ mich kurze Zeit später zusammenzucken. "Caitlyn?"

"Was ist, Mrs. Weasley?", sagte ich etwas heftiger als nötig, um von meiner vom Weinen kratzigen Stimme abzulenken.

Sie jedoch war daran offensichtlich schon so gewöhnt, dass sie keinen Anstoß mehr daran nahm. Auch wenn ich mir einbildete, dass ihre Stimme einige Nuancen kälter war, als sie fragte: "Ich mache mich auf den Weg in die Winkelgasse, die Bücher besorgen. Brauchst du noch etwas, was ich dir mitbringen soll?"

Mit einem dumpfen Laut ließ ich meinen Kopf gegen die Holztür fallen und verneinte. Einen Moment verweilte Rons Mutter noch vor der Tür, als wolle sie noch etwas sagen, dann hörte ich sich entfernende Schritte. Erleichtert einer Konfrontation entkommen zu sein, sank ich ein wenig mehr in mich zusammen, bereit für neue Tränen – die nicht kamen.

Unbequem auf dem Boden gekauert, fiel ich schließlich in einen unruhigen Schlaf.

Unknown Potter II - Hidden in the DarkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt