6 | 19. Kapitel

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Im Nachhinein wusste ich nicht mehr, welche Gedanken mir alle durch den Kopf schossen, während ich den Raum durchquerte. Mir war klar, dass mein Verhalten meiner besten Freundin gegenüber nicht unbedingt fair war, doch alles was ich sah, war der blonde junge Mann, von dem es schien, er könne an Ort und Stelle zusammenbrechen.

Vielleicht hätte ich ihn unter normalen Umständen zur Rede gestellt, so jedoch legte ich ihm nur kurz eine Hand an die Wange, ehe ich meinen Arm um seine Mitte schlang. "Komm, Draco. Wir sollten dich ins Bett bringen."

Sein Gewicht lastete schwer auf mir, was mich mehrmals zum Anhalten zwang, um meinen Griff um ihn zu verstärken. Mir war klar, dass ich mir das Leben mit einem Zauberspruch deutlich hätte erleichtern können, aber auch so wurden wir bei unserem Gang schon genug angestarrt. Noreen schenkte ich nur ein Kopfschütteln, als sie aufstand, um zu helfen. Ich wusste, mein Verlobter wäre darüber nicht erfreut. Auch so spürte ich seine verkrampfte Haltung neben mir.

Wütende Blicke zu den wenigen Slytherins schickend, die es wagten uns anzusehen, war ich schließlich froh, die wenigen Stufen hinunter in den Schlafflügel der Jungen erreicht zu haben. Die mich wiederum vor ein weiteres Hindernis stellten. "Draco?", fragte ich leise, was mir ein leises Brummen verschaffte. Es genügte mir. "Du musst mir jetzt wirklich kurz helfen. Alleine schaffe ich die Treppe mit dir nicht."

Keine Ahnung, wie wir es schließlich in seinen Schlafsaal schafften. Tief atmete ich auf, sobald wir den Raum betraten, welcher meinem eigenen Zimmer hier in Hogwarts nicht unähnlich sah. Fünf Betten standen an den Wänden verteilt, von deren Besitzern zu meiner Erleichterung keiner anwesend war und mit ansehen konnte, unter welchem Aufwand ich ihn schließlich auf sein Bett an der rückwärtigen Wand beförderte. Ich würde sicherlich morgen einen ordentlichen Muskelkater haben.

"Ich zieh dir noch dein Jackett aus", teilte ich ihm mit, bereute meinen Entschluss allerdings beinahe sofort wieder, da er sich dabei ungefähr so hilfreich anstellte wie eine Leiche. Der Vergleich hinterließ ein taubes Gefühl in meiner Magengegend. Allerdings saß er wenigstens selbstständig aufrecht und auch sein Blick war nicht mehr gar so trüb wie noch vor einigen Minuten. Angesichts seiner rotgeränderten Augen nahm ich stark an, dass er geweint hatte.

Nur mit Mühe schluckte ich die Frage danach hinunter und platzierte das Kleidungsstück in seinem Koffer. Unter all dem Schwarz fiel es überhaupt nicht auf. Für einen Moment blieb ich dort vor dem Gepäckstück hocken, den Rücken Draco zugekehrt. Wäre es doch nur so einfach, meine Gedanken ebenso gut im Zaum zu halten wie meinen Mund. Unzählige Erklärungen für sein Auftreten am heutigen Abend schossen mir durch den Kopf, von der die eine unlogischer war als die andere.

"Mary." Es war das Erste, was mein Verlobter heute Abend zu mir sagte, bei dem er einigermaßen klar klang. Stumm blickte ich weiterhin vor mich auf den Boden, unsicher, ob ich bereit war, mich umzudrehen. "Ich kann mir denken, wie viele Fragen du hast."

Seufzend drückte ich mich hoch und sah ihn über die Schulter hinweg an. Sein blondes Haar war so unendlich zerzaust, sein Hemdkragen zerknittert. Er hatte die Schuhe lediglich von den Füßen gestreift. Unordentlich lagen sie neben ihm auf dem Boden. Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. "Wie lange hast du nicht mehr richtig geschlafen? Ich sehe dich kaum noch. Wieso hast du nichts gesagt? Ich hätte dich entlasten können." Denn dass seine Erschöpfung nicht mit den Prüfungen zusammenhing, war offensichtlich.

Müde streckte er eine Hand nach mir aus. "Können wir das morgen klären?"

Mir war klar, dass ich heute Abend nicht von ihm verlangen konnte, noch ein vernünftiges Gespräch mit mir zu führen. Daher nickte ich zögernd und legte meine Hand in seine. Seit wann waren die so schwielig geworden? Beim Quidditch trug er immer Handschuhe und ein Junge aus seinem Elternhaus musste kaum eigenhändig Arbeit vollrichten. Meine Sorge um ihn wuchs. "Schlaf jetzt, Draco." Dicht vor ihm stehend drückte ich sanft seine Finger und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann wollte ich mich zum Gehen wenden.

Er hielt mich fest. "Ich dachte, du könntest heute Nacht hierbleiben?" Die Worte entschlüpften ihm rasch, wobei er mich beinahe an einen kleinen Jungen erinnerte. "Wir sind verlobt, keiner wird daran Anstoß nehmen", ergänzte er, da er mein Zögern bemerkte. Kaum hörbar schob er hinterher: "Bitte."

Wie er so vor mir saß, konnte ich nicht anders als nachgeben. Sachte neigte ich den Kopf und streifte mir die Schuhe von den Füßen. "Dann rutsch ein bisschen." Mit einem Mal war ich nervös. Meine Finger zitterten ein wenig. Ich war mir nicht einmal sicher warum. Er hatte schließlich recht. Wir kannten einander inzwischen ziemlich gut, beinahe sechs Jahre hatten da einen nicht geringen Teil zu beigetragen. Außerdem hatte ich ihm mein Ja-Wort gegeben, früher oder später würden wir unseren ehelichen Pflichten nachkommen müssen, einen Erben seines Namens zu zeugen. Da war eine Nacht nebeneinander im Bett zu schlafen harmlos gegen, oder nicht?

Mein Verlobter hob mit einer Hand die Decke, wobei ihn alleine diese Bewegung noch weiter zu erschöpfen schien, und bot mir seinen Arm an. Noch immer angespannt kuschelte ich mich neben ihn und stopfte die Decke um meinen Rücken herum fest. Wenn die Gorillas oder Theodore nachher in den Raum kämen, mussten sie schließlich nicht unbedingt gleich meine ganze Kehrseite vor Augen haben. Angezogen oder nicht. Blaise hätte sicherlich seinen Heidenspaß, mir das noch Wochen vorzuhalten. Unter Umständen würde ich meine Drohung dann wohl doch noch wahr machen und ihn mit einem Zungenfesselfluch belegen müssen.

"Gute Nacht." Das Nacht konnte Draco nicht einmal vollständig beenden, da war er bereits weggedämmert.

Ich erwiderte den Gruß leise. Am liebsten hätte ich die Hand gehoben, um ihm die wenigen blonden Strähnen aus der Stirn zu streichen. So gut ich fand, dass ihm dies stand, war es doch ein weiterer Beweis für den Zustand, in dem er sich befand.

Selbst wenn der dunkle Lord ursprünglich sein Scheitern und seinen damit verbundenen Tod als größte Strafe für seine Eltern vorgesehen haben mochte, war es momentan nichts weiter als langsame Folter für uns beide. Ich erinnerte mich an das eine Mal im dritten Schuljahr, als er bei mir ihm Schoß eingeschlafen war. Zu gut stand mir der friedvolle Ausdruck in seinem Gesicht damals vor Augen, während er träumend der realen Welt entflohen war.

Heute war davon nichts mehr zu sehen. Seine Züge waren verkrampft, sein Teint noch blasser als sonst, unterschied sich kaum mehr von seinem blonden Haar. Mir war klar, dass auch ich vermutlich nicht viel besser aussah. Den Blick in den Spiegel vermied ich inzwischen, wann immer es möglich war. Ich musste nicht sehen, in welch brutaler Art sich die Narbe quer über meinem Gesicht inzwischen abzeichnete.

Das Prickeln meines linken Arms war Bestätigung genug. Ein weiterer Teil meiner selbst, dessen Anblick ich mir für gewöhnlich ersparte. So zog ich meinen Arm auch dieses Mal nur eng an meine Brust und versuchte die Erinnerung an das, wofür es stand, einfach wegzuatmen. Der Geruch nach Wacholder und Minze erleichterte mir dieses Unterfangen dabei um einiges.

Unknown Potter II - Hidden in the DarkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt