6 | 26. Kapitel

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Ich verbrachte die Nacht bei ihm am Bett. Ebenso wie die darauffolgenden Tage und Nächte. Den Kopf meist auf seine Bettkante gelegt, döste ich immer mal wieder vor mich hin oder wachte wenige Stunden später mit vollkommen verspanntem Nacken wieder auf. Nachdem er endlich wieder vernünftig ansprechbar gewesen war, hatte er mir immer wieder angeboten, mich zu ihm zu legen, doch sah ich ihm an, dass ihm nach wie vor jedwede Bewegung Schmerzen verursachte.

Dies waren die Momente, in denen ich meinem Bruder am liebsten selbst einen Cruciatus auf den Hals gehetzt hätte, um ihn einen kleinen Teil der Schmerzen spüren zu lassen. Teils erschreckten mich meine Gedanken selbst. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wollte ich sie nicht ändern und sparte daher auch nicht mit finsteren Blicken, wann immer ich ihm in den Fluren des Schlosses begegnete. Wenigstens hatte er in diesen Momenten den Anstand, hastig den Blick zu senken und seinen besten Freund an mir vorbei zu ziehen, bevor dieser einen unüberlegten und beleidigende Spruch raushauen konnte.

Kurz nachdem Draco schließlich aus dem Krankenflügel entlassen wurde, nahmen wir unseren Alltag wieder auf. Mit großer Mühe schaffte ich es, selbst Professor McGonagall davon zu überzeugen, dass es mir gut ging, als ich wieder einmal auf dem Weg hinauf in den Raum der Wünsche war. Sie schenkte mir zwar einen skeptischen Blick aus Argusaugen, wünschte mir danach aber nur ein schönes Wochenende.

"Bist du hier, Draco?", rief ich, kaum hatte ich die Schwelle zum Raum der Wünsche überschritten und legte meinen Umhang seitlich des Ganges auf einen der herumstehenden Stühle.

Ein Rumoren erklang, dann ein Fluchen, ehe mein Verlobter ein missgelauntes 'Ja' zurückgab. Wir hatten nur noch wenige Wochen bis zum Schuljahresende, bis zu der Deadline, die uns der dunkle Lord gesetzt hatte. Der Zwischenfall in der Jungentoilette hatte uns einiges an Zeit gekostet. Zeit, die wir nun in Nachtschichten aufzuholen suchten.

Sanft strich ich Draco mit einer Hand über den Oberarm und drückte seinen Zauberstab hinunter. Es war der Bücherstapel gewesen, der umgefallen war und somit den Lärm verursacht hatte, als er wohl aus Frust dagegengetreten hatte. "Was meinst du? Können wir es noch einmal probieren?" Nachdenklich betrachtete ich das Kabinett. Wir hatten es in groben Zügen restauriert, das Holz war längst nicht mehr so staubig wie noch zu Beginn dieses Jahres, ließ sogar einen schwachen Mahagoniglanz erkennen.

"Meinst du wirklich?" Der junge Todesser klang unsicher, während er tatsächlich einen Arm um mich schlang und mit seinen langen Fingern über das Scharnier zum Öffnen strich. Als ich seinen Kopf am Kinn zu mir herumdrehte, erkannte ich die Angst in seinen grauen Augen. Die Angst festzustellen, dass wir erneut versagt hatten. Auch mich hielt sie in ihren Klauen.

Dennoch neigte ich langsam den Kopf, ehe ich mich von ihm löste und hinüber zu meiner Tasche ging. "Hier." Ich zog den mitgebrachten Apfel aus der Tasche und hielt ihn in die Luft. "Wir probieren es mit ihm."

Ein zögerliches Nicken war die Antwort, dann öffnete er die Tür des Kabinetts für mich. Bedächtig kam ich wieder zu ihm hinüber und platzierte den Apfel in der Mitte des Schrankes. Ein sanftes Knacken und die Tür war verschlossen.

Auffordernd sah ich meinen Verlobten an und griff nach seiner Hand. "Nur der Versuch macht schlau!"

Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. Unter einem tiefen Atemzug hob und senkte sich seine Brust einmal, bevor er langsam wieder die Hand mit seinem Zauberstab hob. "Harmonia Nectere Passus." Nichts geschah. Er wiederholte die Worte. "Harmonia Nectere Passus."

"Sollten wir nicht nachsehen?", fragte ich und stieß die unbewusst angehaltene Luft aus. Der Raum roch muffig von den jahrelang abgelagerten Gegenständen und doch nahm ich es, nach all der Zeit, die ich hier verbracht hatte, kaum mehr wahr. Konnte es heute vorbei sein? Meine Finger bebten unkontrolliert, als ich langsam die Hand ausstreckte und schließlich mit geschlossenen Augen die Tür öffnete.

Neben mir hörte ich Draco scharf nach Luft schnappen. "Mary, er ist weg!"

"Was?" Meine Stimme bebte, ob vor Freude oder Unsicherheit konnte ich selbst nicht sagen. Wir hatten bisher schon Erfolge erzielt, ja. Aber diese hatten eher darin bestanden, dass die Gegenstände im Kabinett kaputtgegangen waren. Ein ganz ähnlicher Effekt wie beim Zersplintern, was bei Unvermögen gerne auch beim Apparieren auftrat. So gerne ich Bellatrix deshalb leiden gesehen hätte, der dunkle Lord würde uns einen solchen Fehler nicht verzeihen. Ich schloss die Tür wieder. "Wir müssen ihn wieder zurückholen."

"Willst du es versuchen?" Aus dem Augenwinkel sah ich, wie angespannt mein Verlobter war. Seine sonst ebenmäßige Stirn war gerunzelt und er fixierte den Schrank, als wäre dieser sein persönlicher Todfeind.

Mit einem Mal wusste ich nicht mehr, ob ich mir wirklich einen Erfolg herbeisehnte. War ich so weit, meine eigene Aufgabe zu erfüllen? Knapp schüttelte ich den Kopf, um diese wirren Gedanken loszuwerden und schloss abermals die Augen. "Harmonia Nectere Passus", flüsterte ich und fühlte dabei jede einzelne Kerbe in dem Stab zwischen meinen Fingern. Mir war augenblicklich klar, dass es gelungen sein musste. Ich hatte die Magie wahrgenommen, die durch meinen Zauberstab hindurchgeflossen war.

Dieses Mal überließ ich es Draco, die Tür zu öffnen. Er war vor mich getreten und versperrte mir daher die Sicht, doch als er sich umdrehte, hielt er tatsächlich jenen grünen Apfel in Händen, den ich heute mit hier heraufgebracht hatte. Sobald er ihn herumdrehte, sah ich den Grund für den selbstzufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Ganz eindeutig waren mehrere Stücke aus ihm herausgebissen worden.

Die Freude in diesem Moment überwog. Mir entfloh ein Aufschrei, mit dem ich meine Arme um Dracos Hals schlang und ihn an den Haaren zu mir herunterzog. Hinter mir hörte ich den Apfel zu Boden fallen, als auch er die Arme um mich schlang und unsere Lippen aufeinandertrafen.

Aufatmend schloss ich die Augen, zog seinen vertrauten Geruch ein und fühlte mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wirklich zu Hause. Ich fühlte seine Hand an meinem Hinterkopf, die sich in meinem Haar vergrub, und meinte dieselbe Freude über den Erfolg bei ihm auf den Lippen zu schmecken. Vermutlich war es Unsinn, aber wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Zeit gut und gerne in diesem Moment erstarren können.

Doch auch die schönsten Momente mussten einmal aufhören. Schwer atmend zog mein Verlobter sich etwas von mir zurück, legte die Stirn gegen meine. "Wir haben es geschafft, Mary", murmelte er immer wieder dicht an meinen Lippen, als würde er ein Gebet aufsagen.

Unser Atem vermischte sich. Aus einem Instinkt heraus stellte ich mich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen weiteren Kuss auf den Mundwinkel. "Ja." Wir hatten es tatsächlich geschafft. Obgleich ich mir selbst eingestand, dass ich die Hoffnung darauf eigentlich schon längst aufgegeben gehabt hatte. Vielleicht war die Freude gerade aus diesem Grund so süß.

Plötzlich hörte ich, wie eine Tür geöffnet wurde. Mit schreckensweiten Augen blickte ich zu Draco hoch, dessen Blick sich schon längst gen Eingang gewandt hatte. Auch ich drehte mich um und griff nach meinem Zauberstab. Dann überbrückte ich die kurze Distanz bis zur nächsten Ecke, von wo aus ich die Tür zum Raum der Wünsche sehen konnte.

Sie war noch offen. Im Durchgang stand eine Person mit mehreren Flaschen in der Hand, die just in dem Moment den Kopf hob, als ich um die Ecke trat. "Wer da?"

Ohne nachzudenken, hob ich meine Waffe und feuerte einen Zauber auf sie ab, der als roter Strahl aus ihm hervorbrach.

Unknown Potter II - Hidden in the DarkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt