6 | 11. Kapitel

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"Harry", stellte ich tonlos fest und verharrte mit dem Rücken zu ihm. Am liebsten wäre ich weggelaufen, hätte das Probetraining einfach ausfallen gelassen - nur um nicht in das Gesicht zu blicken, welches meinem leiblichen Vater scheinst so ähnlich sah.

Auch seine Schritte auf dem Sandweg verstummten. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er den Blick fest auf meinen Rücken gerichtet hatte. Wahrscheinlich hielt er die Augen unserer Mutter skeptisch zusammengekniffen und überlegte gerade, wie er mich ansprechen sollte.

Weil jedoch nichts weiter geschah, als dass die Stimmen der anderen Gryffindors langsam in Richtung Schloss hinauf verschwanden, drehte ich mich widerwillig zu ihm um. So wortlos hier zu stehen, war nichts weiter als Zeitverschwendung. Ein Gut, was mir im Moment ohnehin viel zu knapp war. "Wenn du nicht vorhast, mit mir zu reden, können wir das Ganze gleich abkürzen. Ich bin sicher, Ronald wartet schon sehnsüchtig darauf, mit dir die neuste Teamaufstellung durchzugehen und sich in den schillerndsten Farben auszumalen, wie ihr uns dieses Jahr schlagen könnt."

"Nein." Tatsächlich kniff mein Bruder ein wenig die Augen zusammen und fuhr sich mit einer Hand durchs schwarze Haar. Er biss sich auf die Unterlippe. "Du hast diesen Sommer keinen meiner Briefe beantwortet. Wieso?"

Gleichmütig zuckte ich die Schultern, auch wenn mir die Schuld die Kehle zuschnürte. "Wieso sollte ich?"

"Weil du ..."

"Weil ich was, Potter?" Es tat mir leid, dass er bei meinen Worten zusammenzuckte. Ich konnte ihm die Betroffenheit in der Miene ablesen und dennoch tat ich nichts, um diese zu mildern. Genau das wollte ich doch, oder? Er sollte mich hassen, damit er im Ernstfall nicht für mich eintrat. Im Ministerium hatte er für mich gelogen. Das durfte kein weiteres Mal geschehen. Falls ich bei meiner Aufgabe versagte, sollte er mir unter keinen Umständen hinterhertrauern - und aus dieser heraus vielleicht noch etwas Dummes tun. "Hör zu: wir haben einander gegenüber keine Verpflichtungen. Selbst wenn wir einst Freunde gewesen sein mögen, wir sind es nicht länger. Du kannst Ronald ausrichten, dass er die gesamte Zeit recht hatte. Slytherins und Gryffindors sind zu verschieden." 

Gerade rechtzeitig rief mein Freund von unten vom Spielfeld und lieferte mir somit die perfekte Ausrede. Mein Bruder sollte nicht sehen, wie sehr ich mich mit jedem einzelnen meiner Worte selbst verletzte, sollte mir nicht ins Gesicht blicken können. Ich war mir sicher, die sonst so sorgfältig gewahrte Maske der Gleichgültigkeit war soeben am Bröckeln.

Als ich gerade an ihm vorbeitreten wollte, griff er nach meinem Arm und obgleich sein Griff bestimmt war, war er nicht so fest, dass er die Ursache für mein kleines, von Schmerz erfülltes Keuchen hätte sein können. Ich biss mir auf die Unterlippe, um ein weiteres zu verhindern. Das Tattoo an meinem Unterarm pochte heftig unter Harrys Fingern. Merlin sei Dank war der Ärmel meines Umhangs dazwischen. Tarnen konnte ich es nicht, wie ich in zahlreichen Selbstversuchen ausprobiert hatte. Egal welchen Zauber oder Trank ich nutzte, die Tinte verblasste nur kurzfristig, kehrte dann jedoch unter neuerlichen Schmerzen zurück.

"Lass mich los." Kalt erwiderte ich Harrys Blick, unsere Nasenspitzen kaum mehr fünfzig Zentimeter voneinander entfernt. "Ich muss runter zum Feld."

Er dachte nicht daran, seinen Griff zu lockern, verstärkte ihn eher noch. "Du musst dich ohnehin noch umziehen."

"Willst du mir jetzt dabei zusehen?", höhnte ich und versuchte halbherzig, ihm meinen Arm zu entwinden. Vielleicht konnte ich ihm auch mit dem Besen eins überbraten?

"Ich will das Ganze nicht einfach so zwischen uns stehen lassen. Du warst es doch, die immer gegen die Vorurteile unserer Häuser angekämpft hat." Flehend sah er mich an. Es kostete mich meine geballte Willensstärke, nicht einzuknicken, ihm alles zu gestehen.

Stattdessen riss ich mich los. "Dieses Gesprächsthema ist müßig. Wir haben das inzwischen schon oft genug auseinander gekaut. Tschüss, Harry!"

Mein Bruder setzte mir nicht nach, allerdings reichten mir seine Worte bereits voll und ganz, um mitten in der Bewegung zu erstarren. "Weißt du wirklich, worauf du dich da einlässt?" Ich musste das starke Verlangen unterdrücken, meine Hand zu meinem Unterarm wandern zu lassen. Egal wie gut er war, das konnte er unmöglich wissen. Doch wenn er nicht davon sprach, wovon dann? Langsam drehte ich mich wieder zu ihm um, blieb jedoch auf sichere Entfernung stehen. Harry nickte zu meiner Hand. "Weißt du, wen du da gedenkst zu heiraten?"

Obgleich mir in diesem Moment ein ganzer Felsbrocken vom Herzen fiel, gab ich mein Bestes, meine Miene in die Ausdruckslosigkeit zu zwingen. Nachdenklich blickte ich auf meinen Ringfinger hinab. "Ich weiß, du kannst ihn nicht leiden." Er schnaubte. "Aber vermutlich kenne ich ihn besser als irgendwer sonst. Sonst hätte ich seinen Antrag nie angenommen." Dass ich vermutlich keine rechte Wahl gehabt hatte, ließ ich unerwähnt.

Der Wind frischte neuerlich auf, weshalb ich mit gerunzelter Stirn zum Himmel sah. Die Wolken zogen sich dichter, hingen schwer von drohendem Regen. "Weißt du auch, dass er ein Todesser ist? Dass er nun dem Mörder meiner Eltern dient?" Dem Mörder unserer Eltern ...

Mit bebenden Fingern strich ich mir zwei Haarsträhnen aus der Stirn, sah ihn gelassen an. "Hast du irgendwelche Beweise?" Die Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Nein? Dann gebe ich dir für die Zukunft einen Rat: Sprich niemals solche Anschuldigungen aus, ohne dir derer sicher zu sein."

Ich wartete nicht ab, bis er meine Worte verarbeitete, sondern ließ ihn nun endgültig stehen. In diesem Moment war es mir egal, was er von mir dachte. Würde ich mir darum Gedanken machen, wäre ich nie imstande, meinen Auftrag zu erfüllen. Außerdem trudelten die ersten Neuanwärter ein. Wenn es mich nicht täusche, waren es sogar mehr als im letzten Jahr. Wenngleich die Auswahl nicht vielversprechender aussah.

Nur fünf Minuten später trat auch ich aufs Spielfeld, den Besen in der Hand. Draco hatte sich lässig auf seinen eigenen gestützt, die Lippen zu seinem üblichen, arroganten Feixen verzogen. Ich schmunzelte bei dem Anblick, obwohl ich die Frage bereits auf zehn Meter Entfernung in seinen Augen lesen konnte. Unmerklich schüttelte ich den Kopf, nicht bereit, mich jetzt mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Stattdessen wandte ich mich an die Bewerber: "Was steht ihr alle noch so hier herum? Die Zeit hättet ihr nutzen können, statt euch hier anzustarren. Wer am Ende in die Mannschaft kommt, entscheide immer noch ich, also kein Grund, die Konkurrenz auszukundschaften."

Keiner reagierte. Mehrere Zweitklässler starrten mich mit vor Schreck geweiteten Augen an, ein Viertklässler besaß hingegen die Frechheit, den Mund aufzumachen: "Wenn hier jemand Zeit vergeudet hat, dann warst das jawohl du."

"Dir steht es jederzeit frei, den Platz zu verlassen. Dort hinten sind die Umkleiden." Knapp nickte ich in besagte Richtung. "Jetzt schwingt eure Hintern in die Luft. Ich würde gerne noch fertig werden, bevor das Schuljahr zu Ende ist."

Stumm, nur vereinzelt murrend, folgten alle meiner Anweisung. Draco übernahm in der Luft die Führung, was es mir ermöglichte, die Slytherins zu beobachten und in Gruppen einzuteilen. Fast ein Dutzend sortierte ich direkt aus, darunter auch den vorlauten Viertklässler, da diese sich noch dämlicher anstellten als die zwei Gorillas letztes Jahr, was immerhin etwas heißen mochte.

Doch im Allgemeinen ertappte ich mich immer wieder dabei, wie meine Gedanken zurück ins Schloss zu der Aufgabe schweiften, die dort auf mich wartete. Auch ein schlaksiger Junge mit strubbeligem schwarzen Haar und Blitznarbe auf der Stirn spielte dabei eine nicht unbedeutende Rolle.

Unknown Potter II - Hidden in the DarkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt