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Tiefe Nacht legte sich über Harrenhal, einzig und allein erhellt durch die wenigen Fackeln im Hof. Gerade genug, um einige Bewegungen ausmachen zu können. Zumindest für gut geübte Augen.
Ich stand an meinem kleinen Fenster und starrte hinaus in die Schatten, suchte nach bestimmten Bewegungen. Doch zunächst konnte ich außer dem Getrampel der Soldaten nichts erkennen.
Gerade noch hatte ich bei Lord Tywin gesessen und das Lesen geübt. Ich konnte mir stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, welchen Sinn er darin sah, doch es fiel mir einfach nicht ein.
"Du lernst schneller als Jaime", hatte er gesagt, mehr zu sich selbst als zu mir. Doch ich hatte es dennoch gehört und wieder dieses warme Gefühl von Stolz gefühlt. Ich lernte die Buchstaben, ich lernte ihre Laute. Ich wusste nicht, wie lange jemand anderes zum Lesen lernen brauchte, es interessierte mich auch nicht. Andere kümmerten sich auch nicht um mich, warum sollte ich mir über sie dann Gedanken machen? 
Es schien wie ein normaler Abend, die Männer grölten über den Hof, sangen und lachten über ihre Scherze. Über uns lag eine schwarze Decke, übersät mit unzähligen glitzernden kleinen Punkten. Wann immer ich die Sterne sah, hatte ich mir vorgestellt, meine Familie würde mich sehen. Mein Bruder, unsere Eltern - vielleicht sogar deren Eltern, die ich nicht kennengelernt hatte. Sie alle sahen auf uns hinab, beobachteten mich bei meiner Odyssee durch die Flusslande hierher.
"Seid ihr stolz auf mich?", fragte ich leise und mein Atem verlor sich silbern in der kalten Nachtluft, "Seid ihr stolz, dass ich noch am Leben bin? Seid ihr stolz, dass ich nie aufgegeben habe? Seid ihr stolz, dass ich es mir als Ziel gesetzt habe, unsere Familie zu erhalten, solange ich kann?"
Ich spürte, wie sich mein Herz vor Schmerz zusammenzog und kniff die Augen zu. Ich verdiente diesen Schmerz, hatte ich mir immer eingeredet. Das war meine Strafe für mein Versagen.
Ich schüttelte fest den Kopf und sah wieder in den Hof hinab. Es wurde langsam still, die meisten Sodaten begaben sich zur Nachtruhe. Tief in den Schatten der Burgmauern konnte ich Bewegungen ausmachen. Ich beugte mich vor, dann erkannte ich meine drei engsten Bekannten.
Arya, Gendry und Heiße Pastete. Sie alle drei bewegten sich auf das Haupttor zu. Als sie direkt darunter standen, sah ich, wie der kleinste von den drei Körpern stehen blieb und sich zu mir umdrehte. Arya. Wie gerne wäre ich mit ihnen gezogen, weg von all den roten Rüstungen. Ich würde mich hier niemals wohlfühlen, das war klar. Ich war zwar dankbar, aber mehr auch nicht. Bei den dreien dagegen verspürte ich seit langem tatsächlich einmal wieder den Hauch von einem heimischen Gefühl. Und ich spürte genau die nachziehende Kälte in mir, als die drei weiterzogen und hinter dem Haupttor in den Schatten verschwanden. Ich hätte Freunde haben können. Ich hätte vielleicht eine zweite Familie haben können. Doch bemerkte ich dies erst, als es dafür zu spät war. Ich seufzte leise und blickte in den Himmel.
"Die Götter haben einen verdammt beschissenen Sinn für Humor!", fluchte ich leise und schlug mit der Faust auf das Gestein der Fensterbank. Eine Mutter hätte mir das Fluchen streng verboten.
"Du darfst nicht fluchen, so etwas schickt sich für Mädchen nicht!"
"Ich habe keine Mutter mehr, die mich tadelt", flüsterte ich mit bitterem Knurren und drehte mich langsam vom Fenster weg, "Was spielt es also für eine Rolle?"
Ich legte mich hin und zog wegen der Kälte die Knie an. Nun war ich also wirklich allein in den Klauen des Löwen. Da war kein Gendry mehr, der mich verteidigte. Da war kein Heiße Pastete mehr, der mich allein durch sein Lächeln aufheitern konnte. Und da war auch keine kleine vorlaute Arya mehr. Nein, da waren nur noch Lord Tywin und sein Gefolge. Und nicht einem einzigen von denen konnte ich fünkchenweise vertrauen.
Ein Gefühl von Leere breitete sich in meinem Bauch aus. Ich drückte mich an die kalte Wand rechts neben mir, stellte mir den großen wärmenden Körper meines Vaters vor. Wenn ich nachts nicht hatte schlafen können, durfte ich immer noch eine Weile bei ihm liegen. Dann hatte er zu erzählen begonnen, von Drachen und strammen Rittern, die sich ihnen stellten. Dabei hatte er nie Namen genannt. Harren der Schwarze, oder Aegon oder wie sie alle hießen. Für meinen Vater hatte nur ein Ritter immer einen Namen - Stephan, der Starke.
"Das war der Name meines Vaters", hatte er erklärt, "Und das ist auch mein Name."
"Stephan, der Große! Mein Vater", hatte ich dann lautstark gerufen und die Arme jubelnd in die Luft geworfen.
Nun blieb mir noch Lord Tywin, der beizeiten mal etwas von Drachen, Rittern und Lords erzählte. Doch das war natürlich etwas ganz anderes. Er tat dies meist nur für sich selbst, scherte sich nicht um mich. Er würde sich niemals dazu herablassen, eine Geschichte nur für mich zu erzählen. Warum sollte er auch? Er war nicht Stephan, der Große und ich nicht seine Tochter. Er war Lord Tywin Lannister und ich seine Bedienstete.
Ich starrte auf die Wand gegenüber und spürte zum ersten Mal seit langem wieder eine Träne in meinem Augenwinkel. Eine Träne, die langsam und heiß über meine Wange rollte und schließlich in der Strohmatratze unter mir verschwand. Ihr folgten weitere, ich ließ ihnen freien Lauf. Ich musste sie nicht verstecken, ich musste nicht stark bleiben. Diesmal nicht. Es würde keiner sehen.
Und so lag ich dann da, vor Kälte zitternd und weinte einfach. Weinte über verlorene Freunde und einen weiteren kleinen Teil meinerselbst, der mit ihnen von mir gegangen war...

A Beast's HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt