Ungebrochen

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Nachdem Carl im Sanctuary aufgetaucht war, hatte Daryl sich kaum zusammenreißen können. Es hatte die ganze Kraft des Armbrustschützen erfordert, nichts zu tun, abgesehen von dem, was Negan ihm auftrug. Einige Male hatte Daryl Carl angesehen, doch der Junge hatte den Blick nicht erwidert. Erst als Negan den Mann bestraft hatte, der mit einer seiner Ehefrauen geschlafen hatte, indem er ihm ein rot glühendes Bügeleisen auf die linke Gesichtshälfte gedrückt hatte, sowie zuvor schon Dwight, hatte Carl Daryl angesehen. Doch nur, weil Negan Daryl befohlen hatte, die Urinpfütze unter dem Mann aufzuwischen und Daryl es, ohne zu zögern, erledigt hatte. Der Junge hatte ihn beinahe schon herablassend gemustert. Er verstand wohl nicht, weshalb alle Negans Spiel mitspielten.

Später entschied Negan, Carl zurück nach Alexandria zu bringen. Als die beiden gemeinsam mit anderen Saviors im Wagen saßen, konnte Daryl sich nicht mehr zurückhalten. Der Fährtenleser sprach eine Drohung aus, doch noch bevor er sie beenden konnte, wies Negan Dwight an, ihn zurück in seine Zelle zu bringen.

Als Dwight die Tür hinter sich geschlossen hatte, war Daryl erneut von Dunkelheit umgeben. Es vergingen etwa zwei Stunden, doch genau war das schwer zu sagen. In der Zelle war es schwierig, die Zeit richtig einzuschätzen. Dann hörte Daryl Schritte vor seiner Tür. Jemand schob etwas unter der Tür durch. Der Armbrustschütze schaute auf die Seite und betrachtete das Stück Papier für einen Moment. Erst als sich die Schritte wieder entfernten, griff er danach.

Das Stück Papier war seltsam schwer. Darauf stand „Geh jetzt". Als Daryl den Zettel umdrehte, war dahinter ein Schlüssel aufgeklebt. Der Fährtenleser betrachtete ihn skeptisch und drehte ihn ein paar Mal zwischen den Fingern. Er erinnerte sich an das, was Sam zu ihm gesagt hatte, dass er stark bleiben und sich nicht von ihnen brechen lassen sollte. Dann legte er sich auf den Bauch und lugte unter dem Türspalt hindurch. Als er dort draußen niemanden sehen konnte, schloss er die Tür vorsichtig auf. Danach öffnete er sie langsam, überprüfte erneut, dass niemand draußen war. Dann ging er hinaus, schlich durch die Gänge.

Irgendwann hörte er Stimmen aus einem der Räume dringen und schlich weiter. Dann allerdings ertönte das Klirren von Glas und irgendeine Flüssigkeit floss unter dem Türspalt, von wo aus die Stimmen gekommen waren hervor. Daryl drehte um und öffnete die nächste Tür, ging in den Raum dahinter. Dann lauschte er kurz an der Tür und sah sich anschließend in dem Raum um.

Während er sich suchend umsah, fiel sein Blick auf ein Glas Erdnussbutter und blieb daran hängen. Daryl schnappte es sich und begann dann, den Inhalt mit den Fingern herauszuholen. Nachdem er sich die Finger einigermaßen sauber geleckt hatte, schaute sich Daryl nach etwas zum Anziehen um. Er fand ein graues Shirt und riss sich die Gefangenenkluft vom Leib, ehe er sich das Shirt überzog. Da fiel sein Blick auf einige geschnitzte Figuren auf einem Beistelltisch und er verharrte. Er war hier in Dwights Zimmer.

Nachdem er die Figur kurz angesehen hatte, kochte die Wut immer weiter in ihm hoch, doch er unterdrückte sie mit viel Mühe. Dann schnappte er sich noch ein Holzfällerhemd und eine Hose und zog sich beides über. Als das erledigt war, schnappte er sich einen Löffel von der Anrichte und setzte sich mit dem Erdnussbutterglas auf einen Lehnstuhl. Daryl löffelte die Erdnussbutter bis auf das letzte Bisschen aus und genoss jeden Löffel davon. Unterdessen lauschte er den Stimmen draußen am Flur, wartete, dass sie sich entfernen und er dann fliehen konnte.

Dann stellte er das Glas mit dem Löffel darin zur Seite, griff nach einer Schildkappe und setzte sie sich auf. Anschließend warf er den Beistelltisch mit den Schnitzereien um. Er wusste, dass es dumm war, doch es verschaffte ihm zumindest ein wenig Genugtuung. Nachdem er aus der Tür getreten war, lief er den nächsten Gang hinunter. Er kam zu einem Raum mit offenstehender Tür, hinter der einige Saviors pokerten. Daryl blieb gerade noch rechtzeitig stehen und wurde deshalb auch nicht bemerkt. Da er noch nicht entdeckt worden war, nahm er einen anderen Gang und lief diesen stattdessen entlang. Als er an einer aufgebrochenen Wand vorbei kam, schnappte er sich ein Metallgestänge als Waffe und rannte dann weiter.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er durch das labyrinthähnliche Fabrikgebäude lief, gelangte Daryl endlich durch eine Tür nach draußen. Er schaute in den Innenhof und musste dann feststellen, dass er im selben Innenhof war, in den er gekommen war, als Fat Joey die Tür absichtlich unversperrt gelassen hatte. Doch Daryl ließ keine Furcht in sich aufkeimen. Mit schnellen Schritten lief er auf die Motorräder und wollte gerade eines kurzschließen.

„Was zur Hölle..."

Daryl sah auf, als er das Flüstern hörte und entdeckte Fat Joey. Der Fettsack hatte sich ein Sandwich in den Mund gestopft, bevor er Daryl entdeckt hatte. Der Armbrustschütze sah ihn mit finsterem Blick an und richtete sich dann langsam auf. Fat Joey breite die Arme aus. Als die Knopfleisten seines grauen Hemdes auseinander drifteten, wurde sein weißes Shirt sichtbar, das gefährlich über seinem runden Bauch spannte und schweißdurchtränkt war.

„Wow, alles cool, ich schwör's", rief Fat Joey mit erhobenen Händen, ließ den kläglichen Rest von seinem Sandwich fallen, als Daryl langsam auf ihn zukam, und zeigte in die Richtung, aus der er gerade gekommen war „Kumpel du kannst da drüben einfach durchs Tor gehen. Und ich werd zu niemandem was sagen. Ich müsste jetzt eigentlich dort sein, aber... Hör mal, ich... ich versuch nur, zu überleben, genau wie du."

Fat Joeys Gestammel klang völlig verzweifelt. Doch Daryl kümmerte das nicht. Er ging weiter auf ihn zu und zog ihm schließlich die Eisenstange über den Schädel. Der fette Kerl ging zu Boden, doch Daryl hörte nicht auf. Er schlug wieder und wieder auf seinen Kopf ein. Vor den Augen des Armbrustschützen blitzten immer wieder Bilder von seinen Freunden auf, wie Negan mit ihnen dasselbe gemacht hatte. Doch Daryl konnte nicht aufhören, er war wie in Trance.

Nur am Rande bekam er mit, dass jemand neben ihm aufgetaucht war. Als er endlich damit aufhörte, auf Fat Joeys Kopf einzuschlagen, bebte seine Unterlippe und er atmete schwer. Eine bekannte Stimme neben ihm sagte immer wieder seinen Namen und endlich sah er dorthin. Er konnte es kaum glauben, doch vor ihm stand Jesus. Der Fährtenleser sah ihn kurz an, dann sah er zurück auf Joey und sein Blick fiel auf einen Revolver in seinem Gürtel. Es war Ricks Revolver.

Daryl warf die Eisenstange weg und nahm sich die Schusswaffe.

„Es geht nicht darum, nur zu überleben. Sondern auch alles wiederzukriegen", murmelte Daryl dann leise in Fat Joeys Richtung.

Nachdem er die Waffe in seinem Gürtel verstaut hatte, ging Daryl zurück zu den Bikes und setzte sich auf eines. Der Schlüssel steckte glücklicherweise,also kickte er den Ständer zur Seite und rollte zurück. Dann sah er zu Jesus,teilte ihm mit, dass sie nun abhauen sollten. Doch noch ehe Jesus aufspringen konnte, hörten sie Schritte, die sich eilig näherten. Und sie stammten nicht nur von einer Person.

Ein Neuanfang unter Beißern - Daryl DixonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt