Allein

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Irgendwie hatte Samantha es zu ihrem Haus geschafft – auf die eine oder andere Weise. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, sie spürte nicht einen einzigen ihrer Schritte. Manchmal wurde sie angesprochen, doch sie wusste nicht von wem, sah kein einziges Gesicht dieser Menschen, hörte kein einziges ihrer Wörter, das sie an sie richteten. Mit versteinerter Miene stieg sie die Treppe hinauf und begab sich dann in das Schlafzimmer, das sie und Daryl bewohnt hatten. Das Geräusch der Tür, die hinter ihr ins Schloss fiel, war das erste, das Samantha hören konnte, seit sie vom steinigen Boden aufgestanden war, auf dem die Saviors sie hatten knien lassen.

Sie fuhr zusammen, als sie das Poltern der Tür hörte. Erinnerungen strömten auf sie ein, wie Negans Baseballschläger auf Abrahams und Glenns Köpfe einschlug. Es dauerte einen Moment, bis Samantha sich wieder darüber im Klaren war, dass sie nicht mehr dort, sondern zuhause war.

Die junge Frau schüttelte den Kopf. Nein. Sie war nicht zuhause. Ihr Zuhause war weit weg. Hier befand sie sich nur in einem Raum, den sie schon eine Zeit lang bewohnte. Doch ein Zuhause war es nicht. Daryl war ihr Zuhause, doch er war nicht hier. Er war weg, weit weg. Und sie würde ihn vermutlich lange nicht mehr wiedersehen, wenn überhaupt. Und wenn sie ihn wiedersah, dann würde es vermutlich nur noch schmerzhafter sein, als ihn nicht zu sehen. Denn wenn es passierte, dann nur, weil Negan damit etwas bezweckte, weil er ihre Leute noch mehr quälen wollte.

Samanthas Blick wanderte zu der Kommode gegenüber des Bettes. Auf dem dunklen Holz standen einige Bilderrahmen, drei um genau zu sein. Mit hölzernen Schritten ging Samantha darauf zu, hob den ersten hoch. Darin waren die Polaroids, die sie lange Zeit in der Hosentasche getragen hatte. Beth lächelte ihr entgegen, ebenso sie selbst. Daryl sah sie misstrauisch an. Sie sah sich und den Armbrustschützen friedlich schlummernd in dem Sarg liegen.

Als ihre Lippe anfing zu beben, stellte sie den Bilderrahmen wieder ab und hob den nächsten auf. All ihre Gruppenmitglieder schauten ihr entgegen. Es war ein Gruppenfoto, wie man es früher in den Schulen von den Klassen geschossen hatte. Samantha entdeckte Glenn, der fröhlich lächelnd neben Maggie stand und den Arm um sie geschlungen hatte. Sie fand Abraham, wie er mit ernstem Gesichtsausdruck und herausgestreckter Brust dastand, wie ein Soldat. Sie sah Daryl, der ihr missmutig entgegenblickte und neben ihr selbst stand, die sie glücklich in die Kamera schaute. Bevor dieses Bild entstanden war, hatte er gefragt, ob das wirklich notwendig wäre. Samantha hatte ihn erst dazu überreden müssen, dass er sich ebenfalls fotografieren ließ.

Sie setzte den Bilderrahmen wieder an seinen ursprünglichen Platz, als ihr Tränen in die Augen stiegen. Mit zitternden Händen griff sie nach dem letzten Bilderrahmen. Es war ein Schnappschuss, den Michonne gemacht hatte. Daryl und Samantha saßen auf der Veranda, sahen einander an, deshalb hatten sie nicht bemerkt, dass Michonne ein Foto von ihnen geschossen hatte. Samantha hatte die Beine vor sich ausgestreckt, während Daryls angewinkelt waren. Der Fährtenleser hielt ihre Hand umfasst und sah sie ernst an, während sie ihn liebevoll anlächelte.

Samantha erinnerte sich an diesen Moment. Es war zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nach Alexandria gewesen, nachdem sie die Herde aus dem Steinbruch fortgelockt hatten. Daryl war gerade von seiner ersten Tour zurückgekommen, nachdem Denise ihm das okay dafür gegeben hatte. Fünf Tage war er fort gewesen, obwohl nur drei geplant gewesen waren. Die letzten beiden Tage hatte Samantha nicht eine einzige Mahlzeit bei sich behalten können, so viel Angst hatte sie um Daryl gehabt.

Auf diesem Bild war er seit einer Stunde zurück gewesen, hatte sich noch nicht gewaschen, was man am Schmutz auf seinen muskulösen Armen auch deutlich sehen konnte. Samantha hatte ihm gerade gesagt, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Darauf hatte Daryl geantwortet, dass dies nicht nötig gewesen war, denn er würde es sich niemals nehmen lassen, zu ihr zurückzukehren. Sein Blick war ernst gewesen und er hatte ihre Hand bestärkend gedrückt. Auf Samanthas Gesicht hatte sich ein liebevolles Lächeln ausgebreitet und sie hatte ihn einfach nur angesehen.

Ein Neuanfang unter Beißern - Daryl DixonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt