Eingesperrt

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Nachdem die Saviors bei ihrem Lager, einem Fabrikgebäude, das sie als Sanctuary bezeichneten, angekommen waren, hatten sie Daryl in einen halb verfliesten Raum gebracht, ihm seine Kleidung weggenommen und ihn dort eingesperrt. Es gab keine Fenster, lediglich unter der Tür hindurch drang ein dünner Lichtstrahl in die Zelle, es war eiskalt und nur einmal am Tag kam Dwight, der inzwischen Daryls Weste mit den Flügeln trug, zu ihm und brachte ihm etwas zu essen. Es war immer das gleiche: Brot mit Hundefutter. Daryl saß zumeist in eine Ecke gedrängt in seiner Zelle und fror. Wenn Dwight kam, nahm er ihm das Essen ab und aß es, ohne zu zögern. Es ging ums Überleben. Und er wollte überleben. Er musste bei Kräften bleiben, denn wenn sich ihm irgendwann die Möglichkeit bot, aus dem Sanctuary zu fliehen, dann musste er in bestmöglicher Verfassung sein.

Seine verletzte Schulter war verarztet worden, ansonsten wäre er wohl sehr schnell an einer Infektion oder etwas Ähnlichem gestorben. Die Schmerzen, der ständige Hunger, die Dunkelheit und die Kälte waren zermürbend. Zwei Tage ging es so. Doch um ihn noch mehr zu quälen, dachten sich die Saviors noch etwas anderes aus. Sie ließen einen Song immer auf Dauerschleife laufen. Das machte Daryl nicht nur halb wahnsinnig, es brachte ihn auch um den Schlaf. Es war die reinste Folter.

Daryl wusste genau, was die Saviors damit bezweckten. Sie wollten ihn brechen. Und sie gaben sich alle Mühe, dieses Ziel zu erreichen. Doch das, was den Armbrustschützen am meisten quälte, war nicht auf die Saviors zurückzuführen. Denn während er in der kalten, dunklen Zelle lag oder saß, hatte er nichts anderes zu tun, als über jene Nacht nachzudenken, in der er Sam hatte beschützen wollen und deshalb auf Negan losgegangen war.

Es war dumm gewesen, das hatte er gleich gewusst. Aber in diesem Moment, hatte er einfach nicht anders handeln können. Und Daryl war sich sicher gewesen, dass Negan ihn töten würde, als er so auf dem Boden gelegen hatte. Doch stattdessen hatte er Glenn getötet. Daryl war klar, dass er Schuld am Tod seines Freundes war, dass Maggie ihren Mann seinetwegen verloren hatte. Immer wieder sah er vor sich, wie Negan mit seinem Baseballschläger auf Glenns Kopf einschlug. Diese Bilder immer und immer wieder vor sich zu sehen, war ein Martyrium.

Doch das war nicht das einzige, an das Daryl sich zurückerinnerte, wenn er an diese Nacht dachte. Oft wanderten seine Gedanken zu Sam. Aber es waren nicht die schönen Momente, an die er sich erinnerte, wenn er an sie dachte. So sehr er sich auch anstrengte, versuchte, an ihr schönes Lachen zu denken, die Wärme, die sie stets ausstrahlte, den verträumten Ausdruck in ihren Augen, ihre hochgezogene Augenbraue, wenn sie ihn neckte – er konnte es nicht. So sah er sie nicht mehr vor sich.

Was er sah, war eine völlig panische Frau, auf deren Händen sein Blut klebte, deren linke Seite bespritzt mit Abrahams Hirnmasse und Blut war. Eine Frau, die bitterlich weinte, kaum Luft bekam und schluchzte. Ihre blauen Augen rot gerändert, das Blau ihrer Iris daher noch intensiver. Ihre Wangen feucht von all den Tränen. Das karamellblonde Haar an einer Seite blutverkrustet, von dem Schnitt an ihrer Kopfhaut. Ihre vollen Lippen bebend vor Angst, die Zähne klappernd.

Wenn Daryl an Sam dachte, sah er immer wieder, wie sie ihn vollkommen verängstigt anstarrte, als Abraham getötet worden war, als Daryl auf den Boden gedrückt worden war und sie gedacht hatte, er würde gleich sterben, als Dwight Daryl in den Transporter gebracht hatte. Und schlussendlich, als sie mit Negan gesprochen hatte. Die Verzweiflung in ihrem Blick würde Daryl niemals vergessen, sie verfolgte ihn, würde ihn neben der Schuld an Glenns Tod um den Schlaf bringen, wenn die Musik es nicht bereits tun würde, hatte es getan, als es noch ruhig in der Zelle gewesen war.

Nachdem man Daryl in den Transporter gebracht hatte und Sam aufgesprungen war, Negan gebeten hatte, auch sie mitzunehmen, da war sich Daryl sicher gewesen, dass er im nächsten Moment zusehen würde müssen, wie Negan auch Sams Kopf mit seinem Baseballschläger zertrümmerte. Als Negan ihr jedoch ihre Optionen genannt hatte, hatte Daryl einerseits Erleichterung gespürt, dass Negan sie nicht umgebracht hatte, doch andererseits hatte es ihm einen Stich versetzt, als er sich Sam an diesem Ort unter all den Saviors vorgestellt hatte. Was sie mit ihr gemacht hätten, daran wollte Daryl nicht einmal denken.

Ein Neuanfang unter Beißern - Daryl DixonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt