8 Mitten in der Nacht

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Paddy, jetzt beruhig dich mal! Sie sagte, 'Bis morgen', da wird sie irgendwo sein. Denk nach, wo könnte sie sein!?
Erst jetzt bemerkte er den Stuhl am offenen Fenster. Paddy war schon halb draußen, als die Sonne sich langsam hinter den Hügeln hervorschob. Er würde einfach nach Chocolate sehen. Wenn die Stute noch da war - ja, dann war alles gut, dann musste Leontina auch irgendwo stecken.
So schnell er konnte, ohne zu großen Lärm zu machen, eilte er zum Stall. Die Vögel in den Bäumen ringsum hatten mittlerweile ein richtiges Konzert angestimmt - unglaublich, wie laut das war. Seltsam, dachte Paddy, dass er davon die letzten Tage nicht aufgewacht war...
Etwas außer Atem kam er endlich beim Stall an. Das Bild, das sich ihm dort bot, zauberte ein Lächeln in sein Gesicht. Chocolate war da. Sie hatte sich auf dem Stallboden auf die Seite gelegt und schien zu schlafen. Und sie war nicht allein. Den Kopf auf auf Chocolates Hals gelehnt lag - tief und fest schlafend - Leontina.
Erleichtert atmete Paddy nun die noch kühle Morgenluft tief ein. Er war so froh, sie hier zu sehen. Hätte ihm vor zwei Tagen jemand gesagt, wie sehr er sich über den Anblick von einem schlafenden Mädchen und ihrem Pferd freuen würde, er hätte es nicht geglaubt.
Zufrieden legte er sich in Angelos Hängematte, die sein kleiner Bruder gleich am ersten Tag mit Jimmys Hilfe hier zwischen den Balken an der offenen Stallseite aufgehängt hatte.
Im Moment konnte er sich keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen. Mit einem letzten Blick zu Leontina und Chocolate schlief er - endlich etwas bequemer - ein.
Und die Vögel sangen ihr schönstes Lied um den neuen Tag zu begrüßen.

********

Chocolate schnaubte leise und schob ihren Kopf in Leontinas Richtung. Das Mädchen sog den vertrauten Duft tief durch die Nase ein und fuhr mit der flachen Hand unter Chocolates Schopf. Wieviele tausend Male hatte sie das schon getan, es war die beruhigendste Bewegung, die sie sich vorstellen konnte. In ihr war alles still. Wie ein spiegelglatter See an einem windstillen Morgen.
Nachdem sie mitten in der Nacht aufgewacht war, hatte sie es einfach nicht mehr in dem fremden Zimmer ausgehalten. Zu viele Gedanken und Bilder waren ihr durch den Kopf gegangen, immer und immer wieder. Trotz der, mittlerweile immerhin etwas leichteren Kopfschmerzen war sie aus dem Fenster gestiegen. Sie wollte auf keinen Fall jemanden wecken oder gar zufällig begegnen und hatte sich langsam humpelnd auf den Weg zu Chocolate gemacht. Zum Glück war es nicht weit gewesen, sie hatte es gerade so geschafft. Angeschmiegt an den so vertrauten Pferdekörper, war sie bald wieder eingeschlafen.
Es war bei weitem nicht das erste Mal. Wenn sie wieder einmal ein neues Zimmer bezogen hatte, konnte sie oft die ersten Nächte nicht sonderlich gut schlafen, da war es schon fast zur Gewohnheit geworden, dass sie die Nacht in Chocolates Stall verbrachte.
Komisch, Chocolate hatte immer so eine beruhigende Wirkung auf sie - alle Sorgen waren dann wie weggeblasen.

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Leontina in der Nase und sie blinzelte dem neuen Tag entgegen. Einen Moment noch genoß sie die Wärme, die von ihrer Stute ausging, bevor sie sich vorsichtig aufsetzte und den Arm über Chocolates Hals legte. Es ging erstaunlich gut - das Hinsetzen - ihre Kopfschmerzen waren fast weg. Das war ja mal eine erfreuliche Erkenntnis.
Als Leontina begann, sich ringsrum umzusehen, fiel ihr Blick sofort auf die Hängematte zwischen den Stallbalken. Die war ihr natürlich in der Nacht nicht aufgefallen.
Und zu ihrem großen Erstaunen war sie besetzt. Nanu, da hatte wohl außer ihr noch jemand die Nacht draußen verbracht?!
Die Neugierde siegte schließlich und sie humpelte so leise es eben ging die paar Meter zur offenen Stallseite. Als sie das bekannte Gesicht in der Hängematte entdeckte, huschte ein Lächeln über ihr eigenes. Paddy. Und er schlief ganz entspannt. Dabei sah er so friedlich aus, dass Leontina noch eine Weile bei der Hängematte stehen blieb und ihm beim Schlafen zu sah.

Und wieder wunderte sie sich über diese langen Haare. Noch nie hatte sie einen Jungen mit so langen Haaren kennengelernt. Und dabei waren es nicht gerade wenige, die sie in Erinnerung hatte. Allein im vergangenen Jahr war sie an fünf oder sechs verschiedenen Schulen gewesen, sie war sich auf die Schnelle schon gar nicht mehr sicher, auf wie vielen tatsächlich.

Wie alt er wohl war? Etwas älter als sie selbst, vermutlich. Immerhin hatte er sie ganz easy zurück auf's Sofa getragen, da war er ihr schon ein ganzes Stück größer und stärker vorgekommen als sie selbst, auch wenn sie an diesen Moment keine so klare Erinnerung hatte.
Naja, aber schließlich war er ja auch ein Kerl... Obwohl, die Jungs aus ihren Klassen, in ihrem Alter, hatte sie da eher noch schmächtiger im Kopf - teilweise war sie da beim Armdrücken sogar stärker gewesen. Also musste er wohl älter sein. Naja, sie würde das mit dem Alter schon noch herausfinden...
Moment mal, wollte sie überhaupt so viel herausfinden? Eigentlich war ihr Plan doch ein ganz anderer...

Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Paddy, drehte sie sich um und humpelte zurück zu Chocolate. So langsam wurde diese Humpelei ganz schön mühsam. Chocolate war inzwischen aufgestanden und beschäftigte sich zufrieden mit dem Heuhaufen an der hinteren Stallseite. Leontina drückte sich einen Haufen Heu zurecht und ließ sich einigermaßen bequem am Boden nieder. Sie genoß es, Chocolate so nah bei sich zu haben und war einmal mehr froh, dass die Stute hier war. Wer wusste schon, wo sie in einem Monat sein würden? Die Hauptsache war, sie war nicht allein....

********

Im Haus war inzwischen ein anderer wach geworden. Der jüngste Spross der Familie Kelly wanderte durch's Haus auf der Suche nach seinem Bruder. Normalerweise schlief Paddy immer noch tief und fest wenn Angelo am Morgen aufwachte - die Bezeichnung Langschläfer passte auf ihn schon besonders gut. Obwohl, JImmy und Patricia konnten da auch ganz gut mithalten.

Nun allerdings war Paddys Bett, gegenüber seinem eigenen, leer, sogar unberührt, und das kam Angelo schon sehr seltsam vor.
Also hatte er sich auf die Suche gemacht.
Nachdem aber von seinem Bruder im ganzen Haus jede Spur fehlte, öffnete er vorsichtig auch noch die Tür zum Musikzimmer. Schließlich hatte Paddy schon den halben Abend dort verbracht - wer weiß....
Eigentlich hatte ihm Kathy eingeschärft, das Zimmer nicht zu betreten, Leontina brauchte schließlich ihre Ruhe. Das leuchtete Angelo ja auch ein, mit der Ruhe hatte er es ja nicht so, das wusste er selbst. Aber das hier war ja nun wohl eine Ausnahme. Besondere Situationen - besondere Regeln - dachte Angelo bei sich als er langsam die Türe aufdrückte.
Normalerweise konnte ihn so schnell ja nichts aus der Fassung bringen, aber was er nun entdeckte, jagte ihm doch einen kurzen Schrecken ein. Das Zimmer war nämlich menschenleer. Leontina war weg und sein Bruder auch.
Angelo drehte sich in der Tür um und sauste wieder nach oben.

Am Bett von Johnny angekommen, rüttelte er seinen älteren Bruder ungeduldig an der Schulter.
"Johnny! Wach auf! Paddy und Leontina sind weg!"
"Was?!" Johnny saß kerzengerade im Bett.
"Hast du überall nachgeschaut?"
"Im ganzen Haus, von oben bis unten, das Musikzimmer ist leer," antwortete Angelo schnell.
"Weck Jimmy oder Joey, einer soll mit runterkommen, wir müssen sie suchen - irgendwo werden sie schon sein..." Johnny war schon in seine Schuhe geschlüpft und auf dem Weg zur Treppe.
Als er vor die Tüt trat, hörte er schon wie seine Brüder die Treppe herunterpolterten. Einen Lärm machten die wieder. Wenn das so weiterging, war bald das ganze Haus wach.

Es kamen sogar beide, Jimmy und Joey, beide sahen aus, als hätte man sie mitten in der Nacht geweckt. Naja, vermutlich fühlten sie sich auch so, schließlich war es gerade mal sechs Uhr - und das im Urlaub....
"Also, wo könnten sie sein?" fragte Joey und gähnte ausgiebig.
"Ich schlage vor, ihr beide geht links um's Haus, ich rechts rum, wenn sie da nirgends sind, wecken wir die anderen und suchen mit den Autos." stellte Johnny seinen spontanen Plan vor. "Und du gehst zurück ins Haus", wies er Angelo schließlich an.
"Das kannst du grad mal vergessen" weigerte sich dieser empört.
"Also gut, dann komm mit mir", Johnny sah ja ein, dass nichts Angelo nun im Haus halten würde.
So machten sie sich auf den Weg.

"Wenn ich die zwei in die Finger kriege, mich um die schönsten Stunden Schlaf zu bringen..." Jimmy brummelte immer noch müde vor sich hin.
"Na hoffentlich finden wir sie auch beide zusammen, und nicht nur Paddy und Leontina ist weg oder umgekehrt..." Joey machte sich schon etwas Sorgen. Er traute dieser Leontina irgendwie alles zu. Wenn man als 14-jährige alleine mit einem Pferd loszog, von hohen Bäumen herunter purzelte und mitten in der Nacht verschwand, dann wollte er lieber nicht wissen, was sie sonst noch alles anstellte...
Bald kamen sie an der Rückseite des alten Hauses an und hatten freie Sicht auf den offenen Teil des Stalls. Beide hielten in der Bewegung inne.
"Ich glaubs ja nicht!" entfuhr es da Jimmy,
"Und dafür quäl ich mich mitten in der Nacht aus dem Bett....!" Mit einem Kopfschütteln drehte er sich auf dem Fleck um und schlurfte zurück Richtung Hauseingang, vermutlich, um so schnell wie möglich wieder in seinem Bett zu verschwinden.
Joey hingegen war mittlerweile richtig wach geworden und schaute ungläubig auf die Szene vor ihm....

Growing up oder: lost and foundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt