Paddy hatte schon eine ganze Weile vor der Tür gestanden. Eigentlich wollte er nur nachsehen, ob Leontina wach war und war dann doch sehr erstaunt, leise Gitarenklänge aus dem Zimmer zu hören. Und Leo's Stimme. Sie sang oder murmelte irgendwelche Liedzeilen vor sich hin. Was war das für ein Lied - er hatte es noch nie zuvor gehört. Auf jeden Fall hörte sich das was sie sang ziemlich verzweifelt an.
Vorsichtig hatte Paddy die Tür geöffnet. Und wie er Leontina so sitzen sah - mit seiner Gitarre in der Hand und einer Tränenspur im Gesicht - wie sie mit geschlossenen Augen leise vor sich hin sang, es wären ihm beinahe selbst die Tränen in die Augen gestiegen. Sie hatte eine solche Traurigkeit in ihrer Stimme und war ganz versunken in dem was sie tat, dass sie ihn nicht einmal bemerkte.
Und auf einmal war es ihm klar - natürlich - das war ihr Lied, sie komponierte gerade ein Lied, oder vielmehr, das Lied komponierte sich selbst - weil es einfach aus ihrem Innersten herausfloss. Paddy wusste genau was da gerade vor seinen Augen passierte. Er hatte das schließlich schon selbst erlebt: Das Gefühl, dass etwas in einem zu explodieren drohte, dass sich zu viele Gedanken nur im Kreis drehten und man sich sicher war, dieses Gefühl keine Sekunde länger aushalten zu könnnen.
Und dann gab es diesen besonderen Moment, am Klavier oder mit der Gitarre - ganz egal - die Töne öffneten irgendetwas tief im Inneren - und man ließ einfach los. Und alles floß aus einem heraus, aller Schmerz, alle Unsicherheit, alle Zweifel -- Paddy hätte nie sagen können wie es eigentlich passierte.
Irgendwann war es vorbei und man fühlte sich besser. Irgendwie frei. Und als Erinnerung an diese Momente blieben einige Textzeilen und eine Melodie.
Die Lieder, die auf diese Art entstanden, waren solche, die die Menschen am meisten berührten.Langsam ging Paddy auf Leontina zu, er konnte sie einfach nicht länger so alleine auf dem Sofa sitzen lassen - mit ihren Tränen im Gesicht.
Er spürte, wie seine Hände ganz schwitzig wurden, was sollte er sagen? Er war noch nie zuvor in solch einer Situation gewesen. War es überhaupt so eine gute Idee, dass er sie in diesem besonderen Moment beobachtet, ihr zugehört hatte?
Ganz langsam setzte er sich - mit etwas Abstand - neben sie auf's Sofa. Leontina summte immer noch mit gesschlossenen Augen leise vor sich hin und schien den Besuch gar nicht wahrzunehmen.
Was sie sang war so unglaublich traurig, aber auch wunderschön. Paddy merkte, wie ihm nun tatsächlich noch die Tränen in die Augen stiegen und fuhr sich mit der Hand über's Gesicht.
Er betrachtete Leontina von der Seite. Gerade bahnte sich eine neue Träne ihren Weg über ihre Wangen und landete - tip - auf der Gitarre. Paddy verschränkte seine Finger ineinander. Eine leichte Gänsehaut lief ihm über die Arme. Dieses Bild würde er nie wieder vergessen.Dann war es still.
Paddy spürte seinen eigenen Herzschlag so stark, dass er schon fürchtete, Leo müsste es hören. Und wäre es um sein Leben gegangen, er hätte in diesem Moment nicht gewusst, was er tun oder sagen sollte. Also saß er einfach nur da. Jetzt wieder davon schleichen konnte er sich ja wohl schlecht, obwohl er sich schon für den brillanten Einfall, sich unbemerkt ins Zimmer zu schleichen, verfluchte.
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Growing up oder: lost and found
RomanceSpanien 1994. Zwei Familien, zwei Geschichten. Beide sind Reisende aber aus unterschiedlichen Gründen. Beiden fehlt etwas, doch was sie finden, macht es nicht gerade leichter... Als wäre es Schicksal, kreuzen sich ihre Wege nicht nur einmal. Eine Ge...