3 Aufgewacht

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Als Jimmy vor die Tür trat, stand die Sonne schon tiefer am Himmel, er fühlte sich leicht geblendet, als er Angelo auch schon entdeckte.
Sein kleinster Bruder stand bei der Stute und fütterte sie mit Karottenstückchen. Er war so eifrig bei der Sache, dass er Jimmy gar nicht bemerkte.
"Angelo, fütter ihr nicht zuviel, du weißt doch gar nicht ob das so gut für sie ist!"
Sein Bruder schaute ihn aus großen blauen Augen beinahe bittend an, "Ooch, die paar Karotten...sie frisst mir total lieb aus der Hand, schau doch!"
"Ja, mag sein, aber das reicht jetzt!" Angelo konnte seine Geduld manchmal ganz schön strapazieren. "Wir sollten lieber zum nächsten Hof fahren und 'ne Ladung Heu für sie holen, auf gehts!" forderte Jimmy seinen Bruder auf.
Angelo brummelte etwas vor sich hin, folgte dann aber Jimmy, der schon auf dem Weg zum Auto war. Im Vorbeigehen riefen sie Johnny, der in der Türe stand, zu, was sie vorhatten und holperten auf der alten Straße davon.

Johnny stand ganz ruhig im Türrahmen und beobachtete dieses seltsame Pferd, das keinen Sattel und nicht mal ein Halfter trug...
Die Stute stand die ganze Zeit vor oder neben dem Fenster zum Musikzimmer, in dem ihr kleiner Gast lag. Das Fenster stand offen und die Stute streckte von Zeit zu Zeit den Kopf ins Fenster und schnaubte leise. Sie wich ihrer Reiterin praktisch nicht von der Seite. Johnny war sich sicher, wenn sie das Mädchen an einen anderen Ort über den Hof tragen würden, die Stute würde hinterher laufen. So begnügte sie sich damit, unter dem Fenster das Gras abzuweiden.

Innen im Zimmer saß Paddy immer noch auf dem Stuhl vor dem Sofa und döste vor sich hin. Naja, eigentlich war er in Gedanken bei dem alten Baum, wo Joey und er dieses Mädchen gefunden hatten. Er erinnerte sich noch genau an das Bild, das sich ihnen auf einmal bot, und den Stich, den er in seiner Brust gefühlt hatte, als er sie so reglos hatte liegen sehen.
Einen kurzen, furchtbaren Moment hatte er befürchtet, sie wären zu spät gekommen.
Erst als Joey meinte sie atme, war ihm bewusst geworden, dass er selbst den Atem angehalten hatte vor Anspannung. Gott sei Dank war sie nun hier in Sicherheit und würde hoffentlich bald aufwachen. In Sicherheit? Vor was eigentlich? Was machte er sich denn da schon wieder für seltsame Gedanken - es war eindeutig, er musste sich entspannen und einfach mal abwarten. Nicht immer so viel denken...
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen...

*********

Sie lag ganz ruhig und genoß das sanfte Zwitschern, das an ihr Ohr drang. Was war hier los? Sie fühlte sich irgendwie komisch, wie in einem Nebel. Sie bewegte sich etwas und fühlte sich sofort hundeelend. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte war, wie sie hart auf dem Boden ankam, neben diesem alten Baum. Aber wo war sie jetzt? Eindeutig nicht mehr draußen auf der Wiese, unter ihr fühlte es sich weich an...
Sie schlug die Augen auf und sah sich vorsichtig um, ihr war schlecht, aber nicht so schlecht, solange sie den Kopf ruhig hielt.
Überall standen Instrumente herum, vor allem verschiedenste Gitarren. Und eine große Harfe.

War sie im Himmel? War der Baum so hoch gewesen? Bisher hatte sie immer geglaubt, wenn man stirbt und in den Himmel kommt, ginge es einem gut, ohne Schmerzen oder Sorgen.
Erst jetzt bemerkte sie den Stuhl etwas links von sich.
Huch, da saß ja jemand und schlief. Jemand mit unglaublich langen, braunen Haaren, vielleicht etwas älter als sie. Sie konnte sich unmöglich entscheiden ob das ein Junge oder ein Mädchen war. Sehr seltsam. Also war sie vielleicht wirklich im Himmel, und das war ein Engel???
Aber die Vögel hörten sich so an wie sonst auch...
Irgendwie war sie ziemlich durcheinander.
Sie richtete ihren Blick auf die schlafende Person neben sich und atmete einmal tief durch, gleich würde sie erfahren wo sie war.

********

Das lange Sitzen hatte ihn wohl etwas schläfrig gemacht, denn er erschrak sich mächtig, als vom Sofa auf einmal ein leises "Hallo" an seine Ohren drang. Verflixt, jetzt war er hier eingeschlafen und gerade jetzt wachte sie auf. Dabei hätte er auf sie aufpassen sollen. Er beugte sich zum Sofa nach vorne, schaute das fragend blickende Mädchen an und brachte endlich ein "Hallo, gut dass du aufgewacht bist" heraus.

Ok, die Stimme war ziemlich rauh, hatte sie sich so die Stimme eines Engels vorgestellt? Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht...

Sie schaute ihn weiter mit riesigen, erstaunten Augen an.
"Ich bin Paddy, eigentlich Patrick ... und ... ähm ...."
Oh mann, was redete er da? Sie machte ihn ganz nervös, mit ihren großen Augen, die wie das Meer aussahen. Jetzt nimm dich mal zusammen, Paddy, sie hat bestimmt größere Angst als du. Wobei, wovor hatte er eigentlich Angst?

"Bin ich tot?"
Abrupt holte sie ihn aus seinen Gedanken. Paddy traute seinen Ohren kaum.
"Was?!? Nein, zum Glück nicht!"

Aha, also war sie noch am Leben. Eigentlich logisch, so schlecht wie ihr war, das konnte nur echt sein. Und der Jemand neben ihr war kein Engel sondern ein Junge. Patrick. Mit so langen Haaren?!? 'Naja, von mir aus...' sie räusperte sich und brach das Schweigen:
"Und wieso bin ich hier? Und vor allem, WO bin ich hier? Und wo ist mein Pferd?" Ihre Stimme war fast ein Flüstern.

Paddy gab sich einen Ruck und erzählte ihr alles. Wie Joey und er sie bewußtlos gefunden und hierher gebracht hatten, wie der Arzt meinte, sie hätte wohl eine Gehirnerschütterung, und dass sie alle so gehofft hatten, sie würde bald aufwachen. Dass sie alle neugierig waren, wer sie war und was sie hier wollte, ließ er weg.
"Und dein Pferd steht draußen vor dem Fenster," endete Paddy.

Bei diesem letzten Satz leuchteten ihre Augen auf.
"Sie ist hier? Oh, Gott sei Dank!"
Schon war sie aufgestanden und wollte zum Fenster, aber abgesehen davon, dass ihr sofort furchtbar schwindlig wurde, konnte sie mit ihrem linken Fuß nicht auftreten. Von dem Dröhnen in ihrem Kopf ganz zu Schweigen. Sie stolperte geradewegs in die Arme von diesem Paddy.
Er hielt sie fest, bevor sie wieder davonstolpern konnte und trug sie zurück auf's Sofa.
Erst jetzt merkte sie, dass sie schreckliche Kopfschmerzen hatte. Sie ließ sich von ihm hinlegen und schloß erstmal die Augen. Alles tat ihr weh, ihr Fußgelenk, ihr Rücken, aber vor allem der Kopf.
Oh Mann. Sie lag hier in einem fremden Haus mit einer Gehirnerschütterung, hatte keine Ahnung wie es weitergehen sollte und ein fremder Junge mit seltsam langen Haaren war bei ihr. Irgendwie kam er ihr etwas durcheinander vor. Naja, vermutlich nicht mehr als sie es selbst war.
Erstmal Augen zu lassen, dachte sie nur, so waren die Kopfschmerzen einigermaßen erträglich.

"Ich sag Bescheid, dass du wach bist," meinte da der Junge neben ihr.
"Bin gleich mit den anderen wieder da."
Welche anderen?
"Nein, warte..." hörte Paddy sie langsam sagen,
"Bitte, ich will nicht reden, mein Kopf ..."
Paddy setzte sich neben sie auf's Sofa und nahm ihre Hand. Sie war ganz kalt.
"Ok, shhhhh... keine Sorge, ich bleib hier. Sag mir nur wie du heißt."
"Leontina," kam die leise Antwort.
"Ich bin so müde, tut mir leid ..."
Paddy strich ihr mit einer Hand über die Schläfe.
"Schon gut. Mach die Augen zu."

Eine Weile war es still. Dann hörte er sie leise flüstern, er musste genau hinhören um sie zu verstehen:
"Danke, dass ihr mich gefunden habt."
Paddy hörte sie noch ein paar mal tief einatmen, dann war sie eingeschlafen.
"Keine Ursache" hörte er sich selber sagen.

Er ließ ihre Hand los und legte die Decke wieder über sie, sah sich nach seinem Stuhl um und ließ sich dankbar darauf nieder. Er fühlte sich ganz zittrig. Hoffentlich war alles ok mit ihr. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sie gar nicht gefragt hatte wie es ihr überhaupt ging. Das konnte auch nur ihm passieren. Sie hatte wohl starke Kopfschmerzen. War das normal bei einer Gehirnerschütterung? Paddy hatte keine Ahnung. Vermutlich schon. Hatte nicht Dr. Lopéz irgendwelche Medikamente da gelassen? Er musste unbedingt mit Patricia reden...
So sehr er sich freute, dass sie nun aufgewacht war, so sehr nahm er sich vor, das nächste Mal nicht allein hier zu sitzen, wenn sie aufwachte.

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Growing up oder: lost and foundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt