Leontina hatte von allem genug. Wie sollte das nur weitergehen? Patricia hatte ja nicht ganz Unrecht damit, dass bald jemand über ihren Verbleib informiert werden musste. Spätestens morgen würden die Leute vom Ferienhof wohl merken, dass sie und Chocolate weg waren. Und ihre ganzen Sachen waren ja auch noch dort... Aber wenn die wüssten, dass sie hier war, würden sie dann nicht drauf bestehen, dass sie mit Chocolate zurückkam? Zum Glück hatten sie dort sowieso keinen Überblick, wer wann und wo zum Essen auftauchte und Kursstunden hatte sie ohnehin so selten wie möglich besucht. Was hätte sie dort auch lernen sollen? Wie man seinem Tier die Angst vor dem eigenen Reiter beibringt? Zu gern hätte sie diesen 'Trainern' mal die Meinung gesagt, aber dazu war sie, in deren Augen, eindeutig zu jung - das musste sogar sie einsehen, wenn sie auch sonst mit allen und jedem diskutierte. Sie hätten ihr ja doch nicht zugehört... Einmal hatte sie vorsichtig versucht, ihre Ansichten und Erfahrungen anzubringen und war damit gleich auf der roten Liste des Trainers gelandet...Und jetzt hatte sie sich hier mit Patricia und ihrem Bruder auch noch in eine unmögliche Lage gebracht, dabei wollten die ihr doch nur helfen. Sie bereute es schon, sich einfach so unhöflich weggedreht zu haben.
Aber dass sie tatsächlich die Orientierung verloren hatte, wollte sie den beiden, vor allem diesem Paddy, ja auch nicht gleich auf die Nase binden.
Trotzdem. Was musste sie immer gleich so impulsiv reagieren, einmal ein bisschen nachdenken zwischendrin, das wäre nicht so verkehrt. Mensch Leo! In Gedanken ermahnte sie sich selbst, für die Zukunft, das konnte sicher nicht schaden.
Zum Glück hatte Patricia eher ein Gespür für Diplomatie, als sie die Stille schließlich unterbrach und meinte:
"Ich richte dir jetzt mal was zum Abendessen, wir können dann später weiterreden."
"Einverstanden", kam es undeutlich aus einer Ecke des Sofas.Paddy saß mittlerweile ziemlich zerknirscht am anderen Ende. Das hatte er ja wunderbar hinbekommen. Anstatt sich mit Leontina zu unterhalten und vielleicht etwas mehr über sie zu erfahren, war sie nun sauer auf ihn.
Warum sonst hätte sie ihm so plötzlich den Rücken zugedreht? Was musste er auch so bescheuert fragen?!
Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, zog Patricias Stuhl wieder näher heran und setzte sich Leontina gegenüber, oder besser gesagt, ihrem Rücken gegenüber.
"Hör mal," fing er unsicher an, "ich wollte nicht - " ja, was wollte er eigentlich nicht? Sie ärgern? Wohl kaum. Ihm fielen keine passenden Worte ein, aber er wurde erlöst:
"Ist schon ok", hörte er Leontina leise sagen.
"Du hattest ja Recht."
Er hatte Recht?! Tatsächlich?
Langsam drehte sich Leontina zu ihm auf die Seite, stützte ihren Kopf auf dem linken Arm ab und schaute ihn an, sie sah müde aus.
"Ach ja?" kam es da wie von allein aus seinem Mund - verflixt! Konnte er nicht einfach mal die Klappe halten!? Hoffentlich nahm sie seinen ironischen Unterton nicht so ernst. Diese Ironie, die sich immer wie von selbst in seine Stimme schlich, schon oft war es dadurch zum Streit gekommen. Er machte das nicht absichtlich, es rutschte ihm einfach so raus. Oft genug hätte er sich dafür schon die Zunge abbeissen können...Aber Leontina war es egal, was er dachte. Sie war einfach nur froh, dass sie mit Chocolate so weit gekommen war, sicher würden sie den letzten Weg bis zum Haus ihrer Bekannten auch noch schaffen, wenn sie erst wieder fit war.
Warum blieb dieser Paddy eigentlich die ganze Zeit hier? War er ihr Aufpasser? Naja, egal, hauptsache sie schickten sie nicht zurück zu diesem furchtbaren Reiterhof. Ihr Vater könnte was erleben, wenn er zurück kam....Sie schaute Paddy eine ganze Weile an, bevor sie anfing zu erklären:
"Ich hatte wirklich den richtigen Weg verloren. Ich dachte nicht, dass diese ganzen kleinen Strässchen so schwer zu unterscheiden sein würden. Und Schilder sind hier echt Magelware..."
"War das, als Joey und ich dich gefunden haben?"
"Ja, sieht so aus", meinte Leontina, auch ihrer Stimme hörte man die Müdigkeit an.
"Leontina, darf ich dich was fragen?" Paddys Neugier machte sich wieder bemerkbar...
Sie zuckte die Schultern, "Was willst du wissen?"
"Was um alles in der Welt wolltest du denn auf diesem riesigen Baum? So hoch oben?"
Nun musste Leontina doch leise lachen, dass ihm das nicht selbst einfiel. Naja, wahrscheinlich war er mit dieser großen Familie, die er ja anscheinend hatte, nicht so oft auf sich allein gestellt - da verlief man sich wohl nicht so schnell...
Zumindest hatte er zwei Brüder, einer hieß Joey - der sie gefunden hatte, und der andere - Angelo - Engel auf spanisch, das hatte sie sich gut merken können. Dann noch Patricia. Waren das alle? Oder gab es noch mehr?
Da fiel es ihr auf einmal wieder ein, sie war ihm ja noch eine Antwort schuldig:
"Na, von oben schauen, in welche Richtung ich muss! So weit kann das Dorf ja von hier nicht mehr weg sein, das hätte ich ja sehen müssen."
Paddy schüttelte den Kopf. Das war ja nicht zu glauben.
"Und?" fragte er trotzdem.
"Was und?" entgegnete Leontina.
"Na, hast du's sehen können?" So langsam wurde er doch ein wenig ungeduldig.
"Nein, soweit kam's ja nicht. Bevor ich ganz hochklettern konnte, ist doch der Ast gebrochen..."Paddy wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, das Ganze kam ihm so unglaublich vor.
"Steigst du öfters auf so hohen Bäumen herum?" er konnte sich diese Frage einfach nicht verkneifen.
Da lachte Leontina laut los: "Du etwa nicht?"
Paddy dachte kurz nach. Er konnte sich kaum erinnern, in den letzten Jahren auf irgendwelchen Bäumen gewesen zu sein, irgendwie war immer irgendwas anderes zu tun, auf Bäume zu klettern war ihm da nicht eingefallen.
"Äh, also ehrlich gesagt, nein." gab er schließlich zur Antwort.
Leontina sah ihn ungläubig an. Sie fand es seltsam, dass jemand nicht gerne auf Bäume kletterte. Dadurch, dass sie mit ihrem Vater ständig irgendwo draußen war, abseits von Straßen oder Städten, war das schon beinahe zu ihrer Lieblingsbeschäftigng geworden...
Was gab es Schöneres, als ganz oben zu sitzen - wie ein Vogel, die Welt ringsrum zu betrachten und sich so ruhig und frei zu fühlen?
"Da verpasst du aber was," sagte sie schließlich, legte den Kopf wieder ab und schloß die Augen. Sie war einfach zu müde. Paddy hätte sie am liebsten noch mehr gefragt, aber er sah ein, dass das warten musste. Sie brauchte wohl wirklich Ruhe.
Nachdem es eine Weile still blieb, stand er langsam auf und verließ das Zimmer.Im Flur kam ihm Patricia mit einem Tablett entgegen.
"Ich glaube, sie schläft wieder," raunte Paddy ihr leise zu.
"Ich stell das Essen einfach hin, falls sie später Hunger bekommt," entgegnete seine Schwester ihm da und war schon im Zimmer verschwunden.
Und weil sie irgendwie das Gefühl hatte, Leontina wäre doch noch wach, legte sie kurz ihre Hand auf deren Kopf und sagte leise:
"Lauf bloß nicht einfach davon, in Ordnung? Wir finden schon eine Lösung für euch!"
Sie konnte nur hoffen, dass Leontina sie verstanden hatte, denn ihr kleiner Gast blieb ganz still liegen.
Was hätte sie auch antworten sollen? Am liebsten wäre Leontina so schnell wie möglich wieder losgezogen, denn sie merkte schon, in welche Richtung das Ganze hier schon wieder führte.
Patricia war so nett zu ihr, und ihr Bruder hatte auch schon so viel Zeit bei ihr verbracht - langsam aber sicher waren die beiden dabei, einen Weg in ihr gut verstecktes Herz zu finden.
Und genau das musste auf jeden Fall vermieden werden. In spätestens drei Wochen wäre ihr Vater wieder zurück, und sie wusste noch nicht einmal, was ihr nächstes Ziel sein würde. Sie wusste nicht mal, welches Land.... Nein, nein, ihr Entschluss stand fest, so schnell wie möglich würde sie sich wieder auf den Weg machen. Bestimmt gab's hier im Haus eine Karte, und dann würde sie auch den richtigen Weg finden.Da hörte sie, wie schon wieder die Tür knackte und jemand herein kam. Inzwischen war es draußen dunkel geworden, und auch im Zimmer brannte kein Licht. Sie konnte nicht sehen, wer da ins Zimmer gekommen war. Sie versuchte ganz ruhig zu liegen und spürte, wie jemand eine leichte Decke über ihr ausbreitete.
Dann ein paar tapsende Schritte in die Richtung, wo sie mit ihrem Kopf lag - RUMMMS - und ein mühsam unterdrücktes: "Oh shit! Au!"
War das Paddy?
Wer auch immer es war, hatte wohl schmerzhafte Bekanntschaft mit dem kantigen Tischchen gemacht, auf dem ihr Essen immer noch stand und fluchte nun flüsternd vor sich hin.Schließlich hörte sie eine leise Stimme fragen:
"Leontina, schläfst du?" - es war tatsächlich Paddy.
"Jetzt nicht mehr..." Er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte.
"Leontina, versprich mir, dass du morgen früh noch da bist, wenn ich runterkomme."
Leontina hielt kurz die Luft an. Oh nein, was wurde das jetzt?!"Warum?" hörte Paddy sie schließlich im Dunkeln fragen.
Ja, warum? Er wusste selbst nicht, wie er dazu kam sie das zu fragen, irgendwie hatte er so ein komisches Gefühl. Und er wollte nicht, dass sie auf einmal verschwand, jetzt wo er sie gerade besser kennenlernte.
"Ich wollte dich noch so viele Sachen fragen. Und ich will sehen, wie du das mit Chocolate machst, ohne Zaumzeug und Zügel!" sagte er schließlich.
"Paddy?"
"Ja?"
"Gute Nacht." Sie würde hier gar nichts versprechen, dachte Leontina bei sich. Das fehlte gerade noch.
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Growing up oder: lost and found
RomanceSpanien 1994. Zwei Familien, zwei Geschichten. Beide sind Reisende aber aus unterschiedlichen Gründen. Beiden fehlt etwas, doch was sie finden, macht es nicht gerade leichter... Als wäre es Schicksal, kreuzen sich ihre Wege nicht nur einmal. Eine Ge...