Leontina hatte sich entschieden. Sie würde es wagen mit dem Vertrauen, dieses eine Mal noch, und alles erzählen. Naja, vielleicht fast alles...
Mit abwechselnden Blicken zu Paddy und Patricia begann sie ihre Geschichte: Dass sie eigentlich bei ihrem Vater lebte und viel mit ihm unterwegs war - selten, dass sie einmal mehrere Monate an einem Ort waren. Jetzt gerade sollte sie eigentlich mit Chocolate auf einem Reiterhof in dieser Gegend die letzten Ferienwochen gut aufgehoben sein, da ihr Vater sie bei seinem aktuellen Projekt nicht mitnehmen konnte. Sie hätte andere Kinder und Jugendliche kennenlernen und vielleicht sogar Freundschaften schließen können, so der Plan ihres Vaters. Leontina verstummte.Hatte der eine Ahnung! Sie wollte keine Freundschaften mehr schließen!
Ständig war es dasselbe! Sie zogen von einem Ort zum nächsten, sie lernte neue Freunde kennen und ehe sie sich's versah, hieß es schon wieder Abschied nehmen. Wie viele Tränen hatte sie schon vergossen, wenn sie im Auto saß, auf dem Weg zu Projekt XY und genau wusste, das war's jetzt wieder mal, ungewiss, ob sie ihre neuen Freunde je wiedersehen würde...
Nein, damit war jetzt Schluss, das hatte sie sich beim letzten Aufbruch geschworen!
Lieber blieb sie allein, als immer mehr und mehr traurige Abschiede in ihrem Herzen anzuhäufen.
Sie wurde noch ganz krank davon! Und außerdem war sie ja nicht allein, sie hatte Chocolate. Gott sei Dank konnte sie ihre Stute immer mitnehmen. Da hatte es einmal etwas Gutes, dass ihr Vater mit Pferden arbeitete. Wo sie auch landeten, es gab immer irgendwo ein Plätzchen für ihre treue Begleiterein.Leontina seufzte tief, erst jetzt merkte sie, dass die beiden Geschwister sie abwartend anschauten. Sie blickte nach unten, jetzt kam der knifflige Teil. Was, wenn sie zu diesem Hof zurückgeschickt würde? Aber das könnten diese freundlichen Leute doch nicht machen, wenn sie erst alles erzählt hätte, oder?
Weil Leontina immer noch nicht weitersprach, nahm Patricia schließlich den Faden wieder auf:
"Sag mal, hast du dich hier verirrt und nicht mehr zurück gefunden? Sollen wir dich vielleicht zu diesem Ferienhof zurückfahren?"
Erschrocken schaute Leontina auf.
"Was? Nein, auf keinen Fall!"
"Und warum nicht?" mischte sich nun auch Paddy ein.
"Nie wieder geh ich dorthin zurück! Die gehen dort schrecklich mit den Tieren um, was die Feriengäste machen ist ihnen so ziemlich egal" - nicht das dieser Umstand Leontina sonderlich gestört hätte - "und sind obendrauf noch total unfreundlich. Und dann haben sie mir ständig verboten und gedroht, ich dürfte Chocolate nicht ohne Sattel reiten, ohne Zaumzeug und Gebiss schon gar nicht, das wäre viel zu unsicher, dabei braucht sie das nicht! Mal abgesehen davon, dass ich nicht mal einen dabei hätte..."Leontina hatte mittlerweile ganz rote Wangen, so regte sie sich beim Reden auf. Sollte sie auch noch den Rest erzählen? Patricia sah sie aufmunternd an - so weit, so gut...
"Und dann habe ich zufällig mitbekommen, wie der Hofbesitzer mit einem Trainer - pfff! Was die Trainer nennen! - darüber gesprochen hat, Chocolate zu verkaufen. Sie wollten es so aussehen lassen, als wäre sie von der Koppel ausgebrochen und verschwunden!"
Tränen stiegen Leontina in die Augen. Die letzten Worte waren nur mehr ein Flüstern:
"Wenn das passieren würde, wäre ich ganz alleine."
Schnell legte Patricia einen Arm um ihre Schulter und zog sie in eine feste Umarmung.
"Aber du bist ja nicht alleine, du bist jetzt hier."
Und obwohl Leontina sich geschworen hatte, nie wieder so viel Nähe bei neu kennengelernten Menschen zuzulassen, konnte sie doch nicht anders, als die tröstende Geste Patricias anzunehmen.
"Und dann bist du einfach mit Chocolate abgehauen?" stellte Patricia die klärende Frage.
Leontina löste sich aus der Umarmung und nickte.
"Noch vor Sonnenaufgang, als alle noch geschlafen haben, sind wir los..." Sie schaute auf den Boden und wartete auf eine Reaktion. Als niemand etwas sagte, versuchte sie ihr Glück:"Ihr bringt mich nicht zurück?" Leontina sah erst Patricia, dann deren Bruder hoffnungsvoll an. In ihren Augen glitzerte es nur so, und eine einzelne Träne hing noch in ihren Wimpern fest. Paddy war ganz verzückt von diesem Anblick. Es kam ja schließlich nicht gerade häufig vor, dass er solch intensive Momete mit anderen jungen Menschen (außer seinen Geschwistern natürlich, aber das war ja etwas ganz anderes) erlebte. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht mal mehr genau erinnern, wann er das letzte Mal mit jemandem außerhalb der Familie so zusammen gesessen und geredet hätte (obwohl, zugehört - müsste es in seinem Fall eher heißen...), geschweige denn, dass jemand vor ihm so verzweifelt gewesen wäre.
Und jetzt glitzerte diese einzelne Träne mit ihren Augen um die Wette. Er musste sich schon sehr zusammennehmen, am liebsten hätte er ihre Träne ganz vorsichtig weggewischt und sie in den Arm genommen.
Aber erstens saß er zu weit weg und außerdem hatte das mit dem Umarmen ja schon seine Schwester übernommen. Joey oder Angelo (ja, der vor allem) hätten es wohl einfach trotzdem getan, aber er musste sich ja immer erstmal 99 Gedanken zu allem machen. Irgendetwas in ihm bereute diese Angewohnheit schon..."Ich bin so wütend auf meinen Vater!" brach es da auf einmal aus Leontina heraus.
Paddy zuckte merklich zusammen. Patricia musste sich ein Grinsen verkneifen, wo war ihr kleiner Bruder nur immer mit seinen Gedanken? Schwerer Fall von Tagträumerei, würde man das wohl nennen...
Leontina schien das nicht bemerkt zu haben, sie machte ihrem Unmut jetzt richtig Luft:
"Was stellt der sich eigentlich vor, mich einfach auf so einem Ferienhof festzusetzten, was ich da soll hab ich von Anfang an nicht kapiert! Und er macht sich ein paar aufregende Wochen in irgendwelchen spanischen Bergen! Als ob ich da nicht mitgekonnt hätte!" Sie regte sich wirklich mächtig auf.
Paddy warf seiner Schwester einen unsicheren Blick zu, ob das so gut war, in ihrem Zustand? Ruhe hatte doch Dr. Lopéz angeordnet.
Aber Leontina schien das bereits selbst zu merken. Sie fasste sich an die Schläfe und ließ sich langsam zurück in die Kissen fallen.
Patricia versuchte sie zu beruhigen:
"Jetzt ruh dich erstmal aus. Wir bringen dich nirgendwo hin, wo du nicht willst. Aber irgendwem müssen wir doch Bescheid sagen, dass du hier bist. Können wir deinen Vater irgendwie erreichen?"
"Das ist schwierig, ich hab nur eine Nummer für Notfälle, das ist seine 'Basisstation', die Leute dort würden ihn dann suchen gehen, da die Funkgeräte in den Bergen nie richtig funktionieren.
Aber das ist doch kein Notfall, oder? Ich lebe ja noch." stellte Leontina schwach grinsend fest. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Vater nun seine Arbeit wegen ihr abbrechen müsste, auch wenn sie noch so sauer auf ihn war. Sie wusste genau, was eine Unterbrechung seiner Arbeit für einen Riesenumstand bedeuten würde."Ja, aber wo wolltest du denn hin, vom Reiterhof aus, du musst doch irgendein Ziel gehabt haben?" Patricia gab so schnell nicht auf.
Ohje, jetzt kam der abenteuerliche Teil. Bestimmt würden die beiden sie nun für verrückt erklären, wenn das nicht eh schon längst der Fall war....
"Naja," begann Leontina langsam, "letztes Jahr waren wir schonmal in dieser Gegend. Mein Vater hat irgendwo hier noch Freunde, bei denen wir letztes Mal einige Wochen gewohnt haben. Ich wollte dort hin."
"Ja, und weißt du denn die Adresse?" wagte Patricia vorsichtig zu fragen. Sie wollte ihren Gast nicht unnötig aufregen.
Leontina antwortete, als wäre es das Normalste auf der Welt:
"Nicht direkt, ich weiß nur den Ort. Wenn ich angekommen wäre, hätte ich das Haus schon wieder gefunden..."
"WENN du angekommen wärst?!?" fragte Paddy nun völlig entgeistert -
"Weißt du denn überhaupt den Weg dorthin? Zu Fuß?!" Ihm kam das Ganze völlig verrückt vor.Leontina stützte sich nun doch auf die Seite auf und sah Paddy herausfordernd an. Der traute ihr wohl gar nichts zu.
"Natürlich weiß ich den Weg dorthin. So ungefähr zumindest."
Und damit drehte sie sich demonstrativ auf die andere Seite und schloss die Augen. Für sie war das Gespräch wohl eindeutig beendet.
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Growing up oder: lost and found
RomanceSpanien 1994. Zwei Familien, zwei Geschichten. Beide sind Reisende aber aus unterschiedlichen Gründen. Beiden fehlt etwas, doch was sie finden, macht es nicht gerade leichter... Als wäre es Schicksal, kreuzen sich ihre Wege nicht nur einmal. Eine Ge...