oo. Prolog

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Louis

Die Zeit war auf seiner Seite.

Selbst ohne großes Glück würde er problemlos und rechtzeitig zu seinem Termin gelangen. Dass dieser am anderen Ende der Stadt stattfinden musste, störte ihn nicht. Zumindest nicht, solange der versprochene Erfolg nicht ausblieb.

Ein Blick auf die Uhr hatte ihm soeben verraten, dass er noch genug Zeit hatte, um entspannt auf seinem Sitz in der U-Bahn zu sitzen und darauf zu warten, dass sie an der richtigen Station hielt.

Meistens, wenn er sich in einem Wagon umsah, waren alle Gesellschaftsschichten vertreten. Froh war er nur, wenn er nicht neben irgendwelchen armen Schluckern sitzen musste, die ihn jedes Mal ansahen als wäre er Gott höchstpersönlich, wenn er mit Anzug und Krawatte aus dem Fenster sah und hin und wieder eine Nachricht an einen Geschäftskontakt verschickte.

Ihm gegenüber saß ein junger Mann in etwa seinem Alter, der einen Stapel Zeitungen auf dem Schoß hatte. Würde er nicht aussehen wie ein Obdachloser, hätte er glatt angenommen, dass er ein Zeitungsjunge war. Andererseits - was sollte er sonst sein?

Die Bahn war wie immer schrecklich voll. Er hatte oft das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Diese Stadt raubte ihm noch den letzten Nerv.

Ein paar Meter entfernt konnte er durch die Menschen hindurch einen Mann sehen, der seine Haare streng nach hinten gegelt hatte. Eigentlich fiel er ihm nur auf, weil seine Frisur so schrecklich aussah, dass er sein Haargel am liebsten weggeworfen hätte.

Der Junge gegenüber sah gedankenverloren aus dem Fenster und strich sich eine Strähne des lockigen braunen Haares aus dem Gesicht, das aussah, als hätte er es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gewaschen.

Die U-Bahn hielt an der nächsten Station, der Junge stand auf und griff nach seinem abgegriffenen Rucksack, den Louis bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Er rollte beide Augen, als er ihn bat, ihn durchzulassen. Ihm war sehr wohl klar, dass er nicht viel Geld haben konnte. Ansonsten würde er nicht in diesen Lumpen herumlaufen, die aussahen, als wären sie schon ein halbes Jahrhundert alt.

Nach zwei weiteren Stationen wand Louis seinen Blick nach links, und da wurde ihm klar, dass er gar nicht ausgestiegen war. Er hatte nur begonnen, die Zeitungen zu verteilen, was bedeutete, dass er die Fahrgäste belästigte indem er sie fragte, ob sie eines dieser seltsamen Exemplare kaufen wollten. Die meisten schüttelten nur den Kopf und schenkten ihm keine weitere Beachtung.

Als er an seinem Sitz ankam, sah er ihn einen Moment lang an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich hielt er ihm den beachtlich großen Stapel Zeitungen entgegen und legte seinen Kopf schief. „Hätten Sie Interesse an-"

Der Junge unterbrach sich selbst, als er seinen Kopf schüttelte, ohne ihn anzusehen. „Nein, Danke."

Louis glaubte, aus dem Augenwinkel ein Nicken seinerseits erkennen zu können. Er wand sich von ihm ab und ging seines Weges. Und er hatte wieder seine Ruhe - glaubte er zumindest.

Einen Moment später hörte Louis einen dumpfen Aufprall neben sich, den er erst nicht zuordnen konnte. Schließlich sah er die ganzen Zeitschriften auf dem Boden liegen und ihm wurde klar, dass der Junge gestolpert war.

In ihm stieg blinde Wut auf. Wenn die Redaktion, die ihn eingestellt hatte, nach inkompetenten Mitarbeitern gesucht hatte, dann hatten sie in ihm einen Glückstreffer gelandet.

Louis rollte beide Augen, als er sich unter großer Mühe und zwischen entnervten Fahrgästen - inklusive ihm selbst - wieder aufrappelte. „Tut mir leid", murmelte er und begann, all seine Zeitungen wieder auf einen Stapel zu legen, was in einer fahrenden U-Bahn gar nicht so einfach war.

Ein tiefes Seufzen drängte sich aus seiner Brust, als der nächste Halt angekündigt wurde. Eigentlich sollte Louis genau hier aussteigen.

Er erhob sich aus seinem Sitz, griff nach seiner Tasche und machte sich mit teuren Schuhen auf den Weg über seine ganzen Zeitschriften. Der fremde Junge sah ihn von unten aus mit einem fassungslosen Blick an. „Muss das sein?"

Er antwortete nicht wörtlich auf seine Frage, sondern griff nur in seine Manteltasche und zog ein wenig Kleingeld heraus, das er ihm abfällig entgegenstreckte. „Das sollte den Schaden gut abdecken."

Nun war der Zeitungsjunge derjenige, der seufzte. Er griff nach einer Zeitschrift und streckte sie ihm entgegen. „Dann nehmen Sie sie wenigstens mit."

Louis riss sie ihm aus der Hand und klemmte sie sich unter den Arm, ehe er zum Ausgang eilte, da die Türen bereits kurz davor waren, zu schließen. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, als er den Boden des U-Bahnhofs betrat.

Verdammt, dachte er, wie er solche Menschen hasste.

Louis ließ die Zeitschrift schnell in seiner Tasche verschwinden, damit niemand ihn damit herumlaufen sah.

Damals hatte er noch nicht einmal ansatzweise ahnen können, welch große Bedeutung diese Zeitschrift in seinem Leben noch einnehmen würde.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt