o5. Ehrlich gesagt...

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Louis


Es war noch früh am Morgen, als sein Telefon klingelte. Er hatte noch geschlafen, da er sich - ohne es zugeben zu wollen - bis spät in die Morgenstunden mit Harry's mehr oder weniger überwundenem Laster beschäftigt hatte. Weshalb genau er plötzlich ein so brennendes Interesse in sich aufflammen spürte, konnte er sich selbst nicht erklären. Er wusste auch gar nicht, ob er das überhaupt wissen wollte.

Ein zweites Klingeln, ein drittes und schließlich ein viertes. Er stieß ein entnervtes Seufzen aus, schlug seine Decke zurück und griff nach seinem Telefon. „Was?", zischte er in den Hörer, ohne vorher einen Blick auf das Display geworfen zu haben. Um auf solche vermeintlichen Kleinigkeiten zu achten, war er noch viel zu verwirrt. Schließlich war er gerade mal seit einer halben Minute wach - das sei ihm also verziehen.

„Da ist aber einer gut drauf", hörte er eine bekannte Stimme in den Hörer grummeln. Sofort war er hellwach. Harry war der absolut letzte, mit dem er gerechnet hätte. Irgendein nerviger Kunde, der auf einen Rückruf wartete, sein Chef, seine Eltern - irgendwer, der ihm so früh am Morgen auf die Nerven gehen wollte. Aber Harry? Offen gestanden hätte er nicht damit gerechnet, dass er sich noch einmal melden würde.

„Tut mir leid", entschuldigte er sich, seufzte auf und öffnete ein Fenster. „Du bist ganz schön früh dran."

„Hab ich dich geweckt?"

Louis zuckte beide Schultern. „Ehrlich gesagt..."

„Eigentlich interessiert es mich nicht", zwitscherte Harry gelassen in den Hörer.

Beide Augen rollend, stieß Louis einen tiefen Seufzer aus. „Warum hast du angerufen?"

Harry

Er drehte den Schlüssel zu seinem Zimmer in der linken Hand, während er auf den Stufen zu seinem zu Hause saß - oder wie auch immer man es nennen mochte. In der anderen Hand hielt er eine Zigarette. „Ich möchte dir etwas zeigen."

Er konnte förmlich sehen, wie Louis beide Augenbrauen nach oben zog. Zumindest konnte er sich das in diesem Moment ziemlich gut vorstellen. Er wartete geduldig auf seine Antwort, betrachtete die Tattoos auf seinen eigenen Armen und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

Louis klang überrascht, als er antwortete. „Was möchtest du mir zeigen?"

„Lass es mich so sagen", fuhr Harry fort und bemühte sich dabei, seine Antwort möglichst lang zu ziehen. Aus irgendeinem Grund gefiel es ihm, Louis auf die Nerven zu gehen. „Ich möchte dir ein paar Orte zeigen, an denen ich früher viel Zeit verbracht habe."

Er wusste, dass Louis einen straffen Terminplan hatte und er wusste auch, dass er vermutlich besseres zu tun hatte, als sich von einem bestens belehrten Ex-Junkie durch die Drogenszene Londons führen zu lassen.

Einen Moment lang musste er über die Ironie in den eigenen Gedanken lachen, dann hörte er genau hin, was Louis zu sagen hatte. Er glaubte hören zu können, wie er sich ein Shirt überzog. Unwillkürlich musste er sich diesen Schnösel dabei vorstellen. Ein Kichern drängte sich aus seiner Brust.

Er hörte ein Gähnen an der anderen Leitung und wusste ganz genau, dass Louis keine Antwort parat hatte.

„Was sagst du?"

Louis

Obwohl er sich nicht sicher war, ob er das überhaupt sehen wollte, nickte er. Dabei vergaß er völlig, dass Harry ihn nicht sehen konnte. „Meinetwegen."

„Meinetwegen", wiederholte Harry, und für einen Moment fragte er sich, ob er irgendetwas geraucht hatte. Seit dem ersten Wort, das er gesprochen hatte, klang er auf eine so berauschte Art amüsiert, dass Louis sich zusammenreißen musste, nicht nachzufragen oder gar einen Kommentar dazu abzugeben.

„An welche Uhrzeit hättest du denn gedacht?", erkundigte er sich, um die Gedanken zu verscheuchen. Harry antwortete nicht sofort.

„In einer Stunde am Piccadilly Circus", gab er schließlich zurück und er hörte, wie er lautstark ausatmete. Vermutlich rauchte er tatsächlich, aber ganz bestimmt nicht das, was man von einem ehemaligen Junkie im ersten Moment erwartete - schließlich konnte er an der Akustik im Hintergrund hören, dass er an einer öffentlichen Straße saß. Da sollte man sich am besten nicht mit Drogen erwischen lassen.

„In einer Stunde?", wiederholte Louis irritiert. „Das ist ziemlich früh."

„Ich bin seit zwei Stunden wach", entgegnete Harry, „Da wirst du es wohl hinbekommen, in einer Stunde am Piccadilly Circus zu stehen."

Louis stöhnte. „Du machst mich fertig."

„Und du schuldest mir eine Fahrkarte durch London. Also los."

Harry

Natürlich war in seiner Zigarette nicht nur Tabak gewesen. Vor einer halben Stunde hatte er deswegen noch ein so schlechtes Gewissen gehabt, dass er es Liam erzählt hatte. Dieser hatte nur den Kopf in beide Hände gelegt und ihn gefragt, ob er denn verrückt geworden war - Gras zu rauchen, während die Betreuer jeden Moment zur Tür hereinspazieren konnten.

Mittlerweile allerdings fand er diesen Ausrutscher ganz lustig.

So lustig, dass er unentwegt kicherte. Er konnte gar nicht aufhören damit, während ihm die Augen so weit zufielen, dass sie immer halb geschlossen waren. Sie fühlten sich plötzlich unheimlich schwer an.

Trotzdem fand er das immer noch witzig.

Aus irgendeinem Grund konnte er es nicht lassen, zu grinsen.

Er stand auf, Schwindel kroch so weit in ihm nach oben, dass er sich für einen Moment am Geländer der Treppen festhalten musste. Auch das amüsierte ihn so sehr, dass er beide Augen zusammenkniff und in sich hinein kicherte.

Schließlich ging er wieder nach drin, das Gesicht rot vom ganzen Lachen. Als er wieder im Zimmer ankam, war Liam gerade dabei, aufzuräumen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass die Betreuer schon längst hätten da sein müssen. Deshalb hatte er sich ursprünglich ja auch nach draußen gesetzt.

Liam schüttelte seinen Kopf, als er Harry in der Tür stehen sah. Obwohl er noch gerade gehen und normal sprechen konnte - sofern er nicht lachen musste -, konnte man ihm den Rauschzustand deutlich ansehen. Ein Grasrausch unterschied sich in den meisten Punkten gänzlich von einem Alkoholrausch.

Liam war nur froh, dass die Wirkung von Gras, oder was auch immer er geraucht hatte, nie sonderlich lange anhielt.

„Setz dich auf dein Bett", murmelte Liam, „Ich besorg dir ein Glas Wasser."

Harry tat, was man ihm sagte, und spürte Kopfschmerzen und Übelkeit in sich nach oben kriechen. Ihm war schwindlig und er wünschte sich, das Zeug nie genommen zu haben. In einer Stunde allerdings müsste er längst wieder auf dem Damm sein.

„Wenn dich irgendwer sieht, fliegst du raus", zischte Liam, „Du wurdest schon zwei Mal ermahnt."

Harry zuckte beide Schultern. In diesem Moment war ihm das völlig gleichgültig.

„Warst du heute morgen in der Methadon-Klinik?"

„Sicher", gab Harry zur Antwort, schloss seine Augen, und entschied sich, zu schlafen. Waren seine Augen geöffnet, nahm der Schwindel überhand. Schloss er seine Augen, dämmerte er im Halbschlaf so lange vor sich hin, bis der Stoff seine Wirkung verlor.

Er hatte keine Ahnung, was genau er da überhaupt geraucht hatte - man hatte ihm nur gesagt, dass es eine Mischung aus Gras und irgendwelchen anderen Kräutern war. So starkes Zeug war ihm jedenfalls lange nicht mehr untergekommen.

Louis

Als Harry - fast eine halbe Stunde zu spät - am vereinbarten Treffpunkt ankam, sah er aus, als hätte er zwei Tage lang kein Auge zugemacht.

Louis zog bei diesem Anblick beide Augenbrauen nach oben und fragte sich, ob in seiner Vermutung von gerade eben nicht vielleicht doch ein Funken Wahrheit steckte.

Trotz allem lächelte Harry ihn müde an, und obwohl er es nicht zugeben wollte, fand Louis, dass er ausgesprochen gutaussehend war. Die Art von gutaussehend, die er auch immer hatte sein wollen.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt