45. Du bist in Sicherheit

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Harry

Er hatte das Gefühl, als wollen ihn alle auf den Arm nehmen - als hätte die gesamte Welt ihn verraten, während er noch nicht einmal selbst aufstehen, geschweige denn sich um seine eigenen Bedürfnisse kümmern konnte und für jeden noch so kleinen Handgriff Hilfe benötigte.

Obwohl er sich fühlte, als hätte sich die gesamte Welt gegen ihn verschworen, brauchte er ihre Hilfe - und er brauchte sie dringend.

Trotz allem überkam ihn eiskalte Panik, ganz in schwarz, wenn der Mann aus all den Alpträumen sein Zimmer betrat.
Er trug diesen weißen Kittel, wie die Männer, die Kranken halfen und versuchten, sie wieder gesund zu machen. Doch dieser Mann hatte andere Absichten, und Harry wusste um sie; er hatte ihn gesehen, diesen Keller, in dem er all die Menschen quälte, in dem er auch ihn gequält hatte.

Und Harry schien es schier verrückt zu machen, dass niemand ihm zu glauben schien.

Niemand schien ihn ernst zu nehmen, seine Bedenken, seine Sorgen - und als er einige Tage später sein dampfendes Mittagessen vor sich stehen hatte, nutzte er einen unbeobachteten Moment, und ließ das Messer unter seinem Kissen verschwinden.

Nur für den Notfall.

Er musste sich doch zu helfen wissen, wenn der Irre zurückkam, wenn er versuchte, ihn noch einmal in diesen Keller zu bringen...

Louis

Harry wirkte äußerst verwirrt auf ihn, beinahe panisch; aus irgendeinem Grund konnte er den Chefarzt überhaupt nicht leiden und würde nahezu alles dafür tun, nicht in seiner Nähe sein zu müssen, und - um Gottes Willen - bloß nicht von ihm angefasst zu werden.

Wie allerdings sollte ein Arzt seine Patienten behandeln, ohne sie anzufassen?
Louis seufzte, als Harry ihm erneut erzählte, dass sein behandelnder Arzt ein sadistischer Serienmörder sei, der ihn tagelang in einen Keller gesperrt und gefoltert hatte.

Er wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihm erzählte, dass seine Aussagen völliger Blödsinn und reine Einbildung waren, dass sein Kopf ganz einfach verrückt spielte und sich das alles wieder normalisieren würde; aber er konnte ihn doch auch nicht in dem Glauben lassen, dass er in Lebensgefahr schwebte und sich in den Händen eines Massenmörders befand.

Also griff er geduldig nach Harry's Hand und sah ihm tief in die Augen. „Du bist in Sicherheit", versicherte er ihm zum bestimmt zehnten Mal an diesem Tag, während Harry panisch den Kopf schüttelte.

„Das stimmt nicht", flüsterte er mit noch immer dünner Stimme, „Weshalb glaubst du ihm mehr als mir? Du musst mir helfen..."

Auch Niall und Liam hatten sich über Harry's verwirrten Zustand gewundert, als er ihnen von dem grausamen Folterkeller des Arztes berichtet, oder versucht hatte, das Wasser aus der Blumenvase neben seinem Bett zu trinken...

Es gab viele kleine Situationen, die seine Mitmenschen ganz einfach verwirrten; und Harry selbst schien noch nicht wirklich in der realen Welt angekommen zu sein.

Trotz allem entschloss Louis sich dazu, ihn weiterhin jeden Tag zu besuchen, ganz einfach, um ihm ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit zu vermitteln. Er wollte ihm nicht noch mehr Angst machen, indem er ihn sich selbst überließ - ganz abgesehen davon wollte er natürlich auch bei ihm sein.

Es war etwa eine Woche her, dass Harry aufgewacht war, als seine Mutter ohne jede Vorwarnung das Krankenzimmer betrat und sich unsicher umsah.

Niall und Liam waren gerade bei ihm gewesen, hatten ihm die Sportergebnisse vorgelesen, während Louis das Fenster geöffnet hatte, um ein wenig frische Winterluft hereinzulassen.

Zuerst hatte niemand Notiz von der zierlichen, dunkelhaarigen Frau genommen, die mit hochgezogenen Schultern und um den zierlichen Körper geschlungenen Armen den Raum betrat.

Als Louis sich allerdings umdrehte, währe ihm beinahe das Glas aus der Hand gefallen, das er Harry ans Bett hatte bringen wollen.

„Was...", stammelte er, während er auf die Frau zuging, ehe Harry sie sehen konnte. „Was machen Sie hier?"

Offensichtlich wusste Harry's Mutter nicht, wie sie reagieren sollte, also schüttelte sie nur irritiert ihren Kopf. „Ich möchte meinen Sohn besuchen", erklärte sie, offensichtlich genauso verwirrt, wie Harry unter ähnlichen Substanzen immer gewirkt hatte. „Ist das denn verboten?"

Louis schüttelte den Kopf und schob die Frau wieder zur Tür hinaus. „Natürlich nicht", flüsterte er, während er die Tür hinter sich schloss, „Aber er weiß nicht, dass sie in den vergangenen Wochen des öfteren hier waren..."

Ihre Augen wurden plötzlich ganz groß. „Wieso nicht?"

Ungläubig blickte Louis ihr entgegen. „Er lag im Koma", erklärte er, während seine Augen sich zu dünnen, misstrauischen Schlitzen verengten.

„Ich weiß", rollte die eigentlich fremde Frau ihre Augen, „Ich meine ... Weshalb hat ihm niemand davon erzählt?"

Louis stieß ein tiefes Seufzen aus und beobachtete Harry's Mutter dabei, wie sie sich eine Strähne des ungewaschenen, lockigen Haares aus dem Gesicht strich. „Er hat im Moment sogar Schwierigkeiten, seinen eigenen Arzt zu erkennen", erklärte Louis und versuchte, nicht allzu feindselig zu klingen, auch wenn er beinahe keinen Respekt vor der Frau ihm gegenüber haben konnte. Nicht nach all dem, was Harry ihm über seine Eltern erzählt hatte. „Er hat ganz einfach noch nicht die Kraft, sich in der realen Welt wieder zurechtzufinden."

Seufzend wand die Frau ihren Blick von ihm ab und sah an die weiße Wand, die sich den gesamten Gang lang erstreckte. „Sie meinen, ich bin eine Belastung für ihn."

Obwohl Louis sich bemüht hatte, es möglichst nicht direkt zu formulieren, hatte sie verstanden, was er meinte.

„Ich möchte damit nicht sagen, dass Sie eine Belastung für ihn darstellen", log er also, um die traurigen Augen der Frau nicht weiter vor seinem Gesicht haben zu müssen. „Ich möchte damit lediglich sagen, dass er noch ein wenig Zeit braucht, um sich wieder mit der Realität befassen zu können. Bitte geben Sie ihm diese Zeit."

Harry

Er hörte nuschelnde Stimmen auf dem Gang vor seinem Zimmer. Die eine gehörte zu Louis, die andere konnte er nicht erkennen; der Nebel der Schmerzmittel und all der anderen Medikamente, unter die man ihn gesetzt hatte, ließ ihn schnell wieder weg dösen. Er befand sich seit Tagen in einem seltsamen Zustand, der irgendwo zwischen der Wachwelt und dem Schlaf lag, und obwohl ihm das selbst durch den milchigen Schleier der Medikamente irgendwie bewusst war, konnte er nichts daran ändern.

Und vielleicht wollte er das auch gar nicht. Die Realität machte ihm Angst, und so sank er wieder zurück in einen Schlaf, der ihn wieder Bilder sehen ließ - Bilder, in denen er in einen Keller eingesperrt und gefoltert wurde, von einem Mann, der aussah wie sein Arzt.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt