o7. Läuft da was?

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Harry

Es war spät abends, als er sein Zimmer betrat und Liam nach der Uhrzeit fragte. Dieser blickte von seinem Buch auf, das er mittlerweile fast gänzlich durchgelesen hatte und seufzte auf. „Die Betreuer haben schon zwei Mal nach dir gefragt. Die werden dich rausschmeißen, wenn du so weitermachst. Wo zur Hölle warst du?"

Nun war Harry derjenige, der ein tiefes Seufzen ausstieß. „Ich habe dir von diesem Typen erzählt, dem ich sein Telefon wiedergebracht habe, richtig?"

Liam nickte.

„Ich habe einen Spaziergang mit ihm gemacht."

„Einen Spaziergang?"

Harry nickte, öffnete ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an.

Da zog Liam anzüglich beide Augenbrauen nach oben und pfiff durch die Zähne. „Läuft da was?"

„Halt die Klappe", fuhr Harry ihn an, „Du weißt genau, dass ich nur mit Männern geschlafen habe, weil ich das Geld brauchte."

„Tut mir leid", Liam hob abwehrend beide Hände. „Das war nur eine Frage."

„Eine überflüssige Frage", fauchte Harry, „Ich bin nicht schwul."

„Wie du meinst. Hast du Lust, einen Film anzusehen? Niall hat nach dir gesucht, aber du warst nicht hier."

Er zuckte nur beide Schultern, keine Spur einer wörtlichen Antwort. Für ihn war Liam's Bemerkung - auch, wenn sie nur ein schlechter Scherz gewesen war -, eine Art Flashback gewesen. All die Erinnerungen, die er so mühsam hatte verdrängen müssen, all die Dinge, die er hatte tun müssen, um sein Heroin bezahlen zu können.

Sein Körper schüttelte sich vor Ekel, er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß ein zitterndes Seufzen aus. Er bemerkte gar nicht, dass Liam neben ihm ans Fenster getreten war und ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter zu legen versuchte.

Harry zuckte zusammen und warf ihm einen erschrockenen Blick zu.

„Bist du in Ordnung?"

Er reagierte nicht sofort. Eigentlich reagierte er gar nicht, bis Liam seine Frage wiederholte.

Dann nickte er.

„Hör mal", sagte Liam, „Es tut mir leid, falls dir das vorhin zu nahe ging. Ich wollte nicht..."

„Schon okay", schnitt Harry ihm das Wort ab, zwang sich zu einem Grinsen und zog an seiner Zigarette. „Mach dir keine Gedanken. Wolltest du nicht einen Film ansehen?"

Louis

Auch, wenn er sich das nicht wirklich eingestehen wollte - er konnte ihn leiden. Er konnte ihn sogar sehr gut leiden. Er empfand etwas wie freundschaftliche Zuneigung ihm gegenüber, er verspürte Mitgefühl und das Bedürfnis, ihm zu helfen. Wie genau er das anstellen wollte, wusste er noch nicht - aber er schwor sich und dem Rest der Welt, Harry nicht einfach verkümmern zu lassen. Und das würde er, wenn er so weiterlebte.

Ihm lag etwas an Harry, auch wenn er das nur ungern zugab. Er war der Abschaum der Gesellschaft, über solche Leute tuschelte man, mit solchen Leuten gab niemand sich freiwillig ab. Er gehörte zu den Jugendlichen, vor denen Eltern ihre Kinder warnten - und jetzt?

Jetzt war ausgerechnet Louis derjenige, der sich dem Jungen annehmen wollte. Warum?

Er hatte nie Verständnis für diese Art von Menschen gehabt. In seinen Augen waren sie immer selbst schuld an ihrer Misere gewesen, für ihn waren sie einfach nur zu faul gewesen, um etwas an ihrer Situation zu ändern.

Er hatte ja nicht ahnen können, wie falsch er damit gelegen hatte. Jetzt, da er Harry's Geschichte genauer kannte, wusste er ganz genau, dass eine Sucht eben eine Sucht war. Eine Sucht ließ sich nicht von dem einen auf den anderen Tag einfach beseitigen - man musste hart arbeiten, um ein suchtfreies Leben führen zu können.

War man einmal in diesem Strudel gefangen, so kämpfte man ein ganzes Leben lang damit, wieder herauszukommen.

All diese Dinge waren ihm jetzt klar. Und es tat ihm unheimlich leid, diese Menschen all die Jahre lang so verurteilt und schlecht behandelt zu haben.

Da entschloss er sich, Harry eine Nachricht zu hinterlassen. Ihn zu fragen, ob er denn Lust hätte, morgen mit ihm zu Abend zu essen, danach vielleicht etwas trinken zu gehen. Er wollte gut machen, was er all die Jahre lang angerichtet hatte. Und er wollte ihm helfen, auf andere Gedanken zu kommen.

Harry

Der Film, den Niall ausgesucht hatte, war ein nicht sonderlich spannender, berechenbarer Horrorfilm, bei dem in jeder Szene von vorne herein klar war, was passieren würde. Eigentlich hätte Harry unter Drogeneinfluss stehen müssen, um das ertragen zu können. Aber das high des Nachmittags war längst vorbei, und würde er hier auf irgendeine Art und Weise berauscht auftauchen - und sei es nur durch Alkohol - war er obdachlos. Das bedeutete für ihn also, sich zusammenreißen zu müssen. Zumindest für die Zeit, die er hier verbringen musste. So wenig wie nur irgendwie möglich.

Er sehnte sich nach der Wärme des Heroins, dem sorglosen Gefühl des Rausches. Es fehlte ihm selbst nachts, wenn sein erschöpfter Körper sich eigentlich erholen wollte. Er vermisste sein altes Leben, in dem er mit Freunden aus der Szene den ganzen Tag lang irgendwelche Drogen hatte nehmen können, ohne dass sich irgendwer daran gestört hatte.

Der Film war fast zu Ende, als eine Nachricht auf seinem mittlerweile ziemlich ramponierten Telefon einging. Er seufzte kurz auf und warf einen Blick auf das Display. Die Nachricht war von Louis - er wollte wissen, ob er morgen Abend denn Zeit und Lust hätte, etwas mit ihm essen zu gehen. Danach würde er ihn auf ein paar Bier in irgendeinem Pub einladen, das Harry nicht kannte.

Bier war immer eine gute Idee, dachte er und sagte kurzerhand zu. Was konnte schon passieren? Es war doch nicht verwerflich, mit einem Bekannten - er würde nicht so weit gehen, ihn einen Freund zu nennen - etwas essen zu gehen und danach um die Häuser zu ziehen - oder etwa doch?

Wenn man nach den Betreuern in diesem Loch ging, war es das sehr wohl. Für Harry allerdings war nichts dabei. Er hatte schon ganz andere Erfahrungen gemacht.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt