68. Oxycodon

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Harry

Als er wenige Wochen später wieder begann, zu arbeiten, fiel ihm ein gewaltiger Stein vom Herzen.

Tatsächlich hätte er die Leere, die er zu Hause verspürte, nicht mehr länger ertragen können und war heilfroh, endlich wieder produktive Arbeit leisten zu können.

Natürlich war die Packung Tilidin, die sein Arzt ihm verschrieben hatte, mittlerweile aufgebraucht und er hatte das Opioid langsam ausschleichen müssen.

Trotz allem hatte er mit schwachen Entzugserscheinungen zu kämpfen: Schweißausbrüche, Gliederschmerzen, eine ständig laufende Nase.

Gott sei Dank waren sie mild ausgeprägt, sodass er trotz allem zur Arbeit gehen konnte.
Immerhin hatte er die Dosis des Medikaments langsam verringert, und doch war es ihm so verdammt schwer gefallen, nicht wieder mehr als die empfohlene Dosis zu nehmen.

Doch weder sein Hausarzt noch sein Orthopäde ließen sich zu einem neuen Rezept überreden, und so blieb ihm keine andere Wahl, als sich endlich von seinem legalen Heroin-Ersatz zu lösen.

Viel schlimmer waren allerdings die Stimmen in seinem Kopf, die in jeder freien Sekunde nach Opiaten schrien, ganz egal, wie sehr er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen.

Er konnte nachts nicht schlafen, tagsüber war seine Stimmung gedrückt, und der noch so kleine Teil seines Inneren wehrte sich mit aller Kraft, den unnatürlichen Entspannungszustand loszulassen.

Er vermisste es.

Er vermisste es so sehr.

Und doch war ihm gleichzeitig klar, dass er jetzt endlich die Kurve kriegen wollte, wenn er sein neu aufgebautes Leben nicht schon wieder in einen tiefen Abgrund werfen wollte.

Er überstand also einige Tage mit leichten Entzugserscheinungen, auch wenn er wusste, dass das verdammt gefährlich war. Im Krankenhaus hatte man ihm gesagt, man solle niemals einen Entzug ohne ärztliche Aufsicht selbst durchführen, immerhin waren Komplikationen wie Krämpfe, epileptische Anfälle bis hin zum Tod nicht auszuschließen.

Aber, und dem war Harry sich sicher, das war sein letzter Entzug. Keine Drogen mehr, keine Medikamente mehr. Vielleicht hin und wieder ein Glas Wein, aber nicht mehr.

„Harry", riss sein Vorgesetzter Jack den jungen Mann aus seinen Gedanken. „Na, wie bist du in deinen ersten Tagen zurück auf Station klargekommen? Wie geht es deinem Bein?"

Harry rang sich ein zaghaftes Lächeln ab. „Alles wieder gut", antwortete er und versuchte, sich irgendwie nicht anmerken zu lassen, dass ihn die letzten Wochen ziemlich geschafft hatten. „Tut mir leid, dass ich so lange ausgefallen bin."

Jack klopfte seinem Angestellten aufmunternd auf die Schulter. „Das ist doch nicht deine Schuld", lächelte er. „Du hast dir das Bein schließlich nicht absichtlich gebrochen."

Harry grinste. „Wohl kaum."

Jack ging einige Schritte den Flur hinunter und deutete Harry mit einer Geste, ihm zu folgen. „Mary wird dich nachher mit zur Medikamentenausgabe nehmen", erklärte Jack und sah Harry fragend an. „Traust du dir das schon zu?"

Harry schluckte.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse fühlte er sich mit dieser Aufgabe tatsächlich alles andere als wohl, aber ihm blieb nun einmal gar nichts anderes übrig, als zu nicken. Andernfalls hätte er Jack von seinen Schmerzmittelexzessen erzählen müssen, die er so sehr vermisste, weil sie eine ähnliche Wirkung hatten, wie Heroin.

„Natürlich", log er also und versuchte, sein hübschestes Lächeln aufzusetzen.

„Wunderbar", gab Jack zur Antwort. „Dann werde ich ihr Bescheid geben."

Harry nickte, presste die Lippen zusammen, und beobachtete den Stationsleiter, wie er in sein Büro verschwand.

Er wusste, wie die Medikamentenausgabe funktionierte.

Und er wusste auch, dass es einen Schlüssel gab, mit dessen Hilfe man in einen gesonderten Medikamentenschrank gelangen konnte, der die Betäubungsmittel beinhaltete.

Die Medikamente in diesem Schrank waren abgezählt und wurden jeden Morgen kontrolliert, damit sofort auffiel, sollte jemand etwas entwendet haben.

Das war im Übrigen auch der Grund dafür gewesen, weshalb Harry in seiner letzten Arbeitsstelle fristlos gekündigt worden war.

Und so war es auch nicht weiter verwunderlich, dass seine Spannung bis ins Unermessliche wuchs, als er seine Kollegin dabei beobachtete, wie sie den Schlüssel für den besagten Schrank aus ihrer Tasche zog.

Harry biss sich auf die Zunge, um sich nichts anmerken zu lassen.

„Also", begann sie und erklärte ihm Dinge, die er im Grunde genommen schon längst wusste. Wie beispielsweise die Tatsache, dass Betäubungsmittel streng verschreibungspflichtige Medikamente waren und auf gar keinen Fall bei der Kontrolle etwas fehlen durfte.

Schließlich zog die eine Packung Oxycodon heraus.

Harry schluckte.

„Dieses Medikament ist doppelt so stark wie Morphin", erklärte Mary. „Wir setzen es vor allem gegen Tumorschmerzen bei Krebspatienten ein."

Harry's Herz schlug ihm bis zum Hals.

Natürlich kannte er dieses Medikament.

Oxycodon war der Zwillingsbruder von Heroin, im Grunde genommen kannte Harry nichts, was der Droge so ähnlich war wie dieses Medikament.

Er kannte viele Heroinabhängige, die nach einer schweren Operation mit Oxycodon behandelt worden waren, von ihrem Arzt letztendlich kein Rezept mehr bekommen und es sich schließlich auf dem Schwarzmarkt besorgt hatten. Da Oxycodon aber gut doppelt so teuer war wie Heroin, stiegen die meisten irgendwann auf die billigere Alternative um.

Harry hätte am liebsten laut losgeschrien.

Auch bei Tony hatte nach einer Rückenoperation aufgrund seiner schweren Skoliose alles mit Oxycodon angefangen. Jetzt war er tot.

Harry spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte.
Er bekam gar nicht mehr wirklich mit, was Mary ihm erzählte, während sie die verschiedenen Medikamente für die Patienten vorbereitete.

Plötzlich war alles wieder da.

Die Bilder, die ihn manchmal bis in den Schlaf verfolgten. Die Bilder von sterbenden Freunden, lüsternen Freiern und dem ständigen Stress, sich die nächste Dosis zu besorgen.

Ihm wurde schlecht.

„Harry, geht's dir nicht gut?", wollte Mary von ihm wissen, als ihr die Blässe in seinem Gesicht auffiel. „Möchtest du dich lieber hinsetzen?"

Harry schluckte, und er schüttelte den Kopf, während die Übelkeit einen neuen Anlauf nahm. „Nein, schon okay", winkte er ab und versuchte mit aller Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. „Ich bin nur noch nicht ganz so fit mit meinem Kreislauf..."

Mary lächelte den jungen Mann mitfühlend an. „Dann setz dich doch einen Moment lang in den Pausenraum. Ich werde das hier eben alleine fertig machen."

Harry nickte, ließ sich von ihr noch ein Glas Wasser geben und ließ sich auf einem Stuhl im Aufenthaltsraum nieder.

Er spürte, wie ihm vor Wut Tränen in die Augen stiegen.

Sein Puls beschleunigte sich, und er konnte regelrecht spüren, wie das Verlangen nach Heroin seinen Körper durchflutete.

Nach und nach vergiftete es jede einzelne Zelle und machte auch nicht Halt vor seinem Gehirn, das innerhalb kürzester Zeit nur noch einen Gedanken hatte: Er musste irgendwie an das Oxycodon kommen, sobald Mary den Patienten ihre Medikamente brachte.

Also beobachtete er ganz genau, wo sie den Schlüssel für den Medikamentenschrank mit den Betäubungsmitteln verstaute.
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Hallo meine Lieben!
Wie hat euch das Kapitel gefallen?🥺♥️
Ich bin gespannt auf eure Meinungen!

All the love,
Helena xx

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt