52. Das gleiche Schicksal

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Harry

Einige Tage später hatte er sich bereits gut eingelebt. Bis zu diesem Tag hatte er noch keinen Zimmernachbarn bekommen, wofür er ziemlich dankbar war. Er brauchte seine Ruhe; er hatte keine Lust, auf engstem Raum mit einem Fremden zusammenzuleben, während man sich gegenseitig mit allen möglichen Kleinigkeiten auf die Nerven ging.

Einige seiner Mitpatienten hatte er jedoch bereits kennengelernt. Die meisten von ihnen teilten ein ähnliches Schicksal wie Harry selbst: zerrüttetes Elternhaus, traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit, früher Kontakt mit den falschen Leuten - und schließlich hatte sich der Absturz nicht mehr aufhalten lassen. Sie alle waren ab einem bestimmten Punkt in ihrem Leben in eine Abwärtsspirale geraten, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskamen.

Freya, ein junges Mädchen, das ebenfalls wegen ihrer Heroinsucht auf der Station betreut wurde, hatte sich in den letzten Tagen ein Stück weit mit Harry angefreundet. Die langen, schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die dünnen Beine steckten in ebenfalls schwarzen Röhrenjeans und der schmale Oberkörper wurde von einem viel zu großen, ebenfalls schwarzen, Pullover versteckt.

Ihre Eltern waren wohlbabend gewesen, sie allerdings kaum beachtet.
Sie hatte sich oft einsam gefühlt, genau wie es in Harry's Kindheit der Fall gewesen war. Sie und ihre Freunde hatten viel Zeit in den sozialen Brennpunkten Londons verbracht und sich schließlich mit den falschen Leuten abgegeben, von denen es in solchen Ecken der Stadt einige gab.

Harry hatte in den letzten Tagen oft das Gefühl gehabt, als säße ihm sein weiblicher Zwilling gegenüber.

Auch, wenn er eigentlich nicht vorgehabt hatte, sich mit irgendwem über seine privaten Schwierigkeiten auszutauschen, war es mit diesem Mädchen doch etwas anderes. Sie schien ihn zu verstehen, sie teilten das gleiche Schicksal, und sie hatten beide das gleiche Ziel: endlich von dem Heroin loszukommen und wieder in ein normales Leben zurückfinden.

Sie redeten stundenlang miteinander, unterhielten sich über ihre Vergangenheit und fühlten sich so vertraut miteinander, als hätten sie sich schon immer gekannt.

Harry erzählte ihr von seinen Eltern, die ihn schon mit sechs Jahren täglich zu dem Kiosk eine Straße weiter geschickt hatten, um ihnen harten Alkohol zu kaufen. Er erzählte ihr von den Tagen, an denen er nichts zu Essen gehabt hatte, weil seine Eltern zu betrunken gewesen waren, um überhaupt zu registrieren, dass er existierte. Er erzählte ihr von Nächten, in denen er verzweifelt versucht hatte, seine Eltern zu wecken, was in ihrem absolut betrunkenen Zustand allerdings nicht mehr möglich gewesen war - wie er weinend neben ihnen gehockt hatte, weil er dachte, sie seien tot.

Er erzählte ihr, wie sein Vater ihn angeschrien hatte, wenn er vergessen hatte, den Müll nach unten zu bringen; wie er ihn geschlagen hatte, wenn er aus Versehen eine Bierflasche hatte fallen lassen.

Er erzählte davon, wie man ihn in der Schule gefragt hatte, weshalb seine Eltern nie zu Elternabenden oder Sprechstunden bei seinen Lehrern erschienen. Wie er immer gelogen hatte, weil er Angst gehabt hatte, seine eigenen Eltern zu verraten.

Er erzählte ihr, wie er in kindlichem Leichtsinn jeglichen Alkohol in den Abfluss gekippt hatte, weil er geglaubt hatte, wenn kein Alkohol mehr im Haus war, würden seine Eltern aufhören zu trinken. Wie sein Vater ihn verprügelt hatte, als er davon erfahren hatte.

Er erzählte ihr von den Kontakten, die er geknüpft hatte, als er älter wurde. Von den unzähligen Tagen, die er damit verbracht hatte, die Schule zu schwänzen, während er sich total betrunken mit seinen neuen Freunden in irgendwelchen Parks oder in der Stadt herumtrieb. Von den zahllosen Nächten, die er durchgefeiert hatte, um den Schmerz zu betäuben, und wie er in einer dieser Nächte seinen ersten Trip geschmissen hatte.

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt