85. Gleichfalls

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Harry

Es schmerzte.

Mein Gott, und wie es schmerzte.

Nun erstarb selbst der letzte Funken Hoffnung in ihm, dass Louis noch etwas an ihm lag.

Auch, wenn es lächerlich war, an dieser Vorstellung festzuhalten – irgendwie hatte er noch immer geglaubt, sie hätten einen Weg zurück zueinander finden können.

Doch jetzt, als er ihn sah, Hand in Hand mit dieser hübschen Blondine, während er ihn ganz offensichtlich noch nicht einmal kennen wollte, war für ihn klar, dass diese Hoffnung umsonst war.

Und er konnte es ihm noch nicht einmal zum Vorwurf machen.

Er hätte auch nicht mit sich selbst zusammen sein wollen.

Er war schwerst heroinabhängig und sah aus, wie der Tod selbst. Sein Vater prügelte ihn jeden zweiten Tag grün und blau, weil Harry ihm regelmäßig Geld stahl, um sein Drogenproblem zu finanzieren.

Natürlich reichte die paar Pfund nicht aus, wenn er täglich etwa einen Hunderter verdrückte.

Also – und wie sollte es anders sein – verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit auf dem Straßenstrich am Londoner Hauptbahnhof.

Er war ganz unten angekommen.

Es hätte kaum noch schlimmer werden können.

Er ekelte sich vor sich selbst, er hatte keine Ahnung, wie er aus dieser Situation wieder herauskommen sollte.

Sein ganzer Körper schmerzte, doch das Heroin dämpfte die unangenehmen Empfindungen größtenteils ab.

Die blauen Flecken, stumme Zeugen von den Schlägen seines Vaters oder zu groben Freiern.

Die Jagd nach dem nächsten Schuss war anstrengend, und doch verspürte er kaum noch ein Hungergefühl. Er hatte rapide an Gewicht verloren, seitdem er rückfällig geworden war.

Sein Lebensmut hatte nachgelassen und seine Existenz war eine einzige Qual.

Da half es auch nicht, dass er an den Weihnachtsfeiertagen zitternd in der Bahnhofshalle saß, während andere voller Vorfreude zu ihren Familien eilten, um die stille Zeit mit ihnen zu verbringen.

Was hätte er dafür gegeben, einer von ihnen sein zu können.

Einer von denen, die eine liebende Familie zu Hause hatten, die Geborgenheit und Wärme vermittelte.

Ein kleiner Teil von ihm hatte auch an diesem Abend gehofft, dass seine Eltern zumindest ein bisschen Liebe und Weihnachtsstimmung durchdringen ließen.

Doch natürlich wurde auch diese Hoffnung gnadenlos zunichte gemacht, als er bereits am Morgen festgestellt hatte, dass sie restlos betrunken auf dem Sofa lagen und der Zigarettenqualm die ganze Wohnung erfüllte.

Ein lallendes „Frohe Weihnachten" war alles gewesen, was sie an diesem Morgen zu ihrem einzigen Sohn gesagt hatten.

Sie fragten ihn nicht, wohin er ging und wann er wieder zurück sein würde.

Eigentlich fragten sie ihn nur, ob er ihnen eine Flasche Whiskey mitbringen konnte, wenn er wieder nach Hause kam.

Resigniert hatte Harry zugestimmt und hatte sich auf den Weg zum Hauptbahnhof gemacht.

Die Kälte der Jahreszeit spiegelte sein Inneres wider, das sich gequält hinter einem Schleier auf Heroin und Sex mit fremden Männern versteckte.

Als er am Abend zurück nach Hause kam, stellte er seinen Eltern die Flasche Schnaps auf den Wohnzimmertisch.

Sein Vater beäugte ihn misstrauisch. „Wo warst du denn so lange?"

Harry versuchte, sich möglichst nichts anmerken zu lassen. „Ein bisschen in der Stadt", log er.

„Den ganzen Tag lang?"

Desinteressiert zuckte Harry die Schultern. „Ja, was ist daran so komisch?"

Irritiert zog sein Vater die Augen zusammen. „Du bist doch schon wieder drauf."

„Und du bist betrunken", gab Harry genervt zurück und spürte, wie die alte Wut wieder in ihm aufkeimte.

„Das hat dich nicht zu interessieren."

„Gleichfalls", antwortete er und bemerkte ganz genau, wie er langsam streitlustig wurde.

Einfach weil er diesen Zustand nicht länger ertragen konnte.

Wankend stand sein Vater vom Sofa auf und hob mahnend den Zeigefinger. „So redest du nicht mit mir."

Er hatte keine Angst.

Eigentlich fühlte er gar nichts mehr.

„Jetzt streitet euch nicht", lallte seine Mutter vom Sofa und versuchte, den Konflikt der beiden Männer zu schlichten. „Schließlich ist Weihnachten."

Harry ballte die Hand zu einer Faust. Er konnte sich einfach nicht mehr zusammenreißen. „Ja", gab er bissig zurück, „Es ist Weihnachten, und ihr sitzt mit einer Flasche Schnaps auf dem Sofa und bemerkt nicht einmal, dass der gleiche Film schon zum dritten Mal läuft."

Wie zu erwarten, holte Harry's Vater aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Harry's Kopf flog zur Seite und knallte gegen den hölzernen Türrahmen.

„Da füttert man dich durch, und du besitzt die Frechheit, so mit uns zu reden!", brüllte er mit verwaschener Sprache, „Jetzt reiß dich mal zusammen!"

Harry hätte angesichts der ironischen Situation am liebsten gelacht.

„Ihr füttert mich durch?", gab er wüend zurück und ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Wange. „Muss ich dich daran erinnern, dass eure Hauptnahrung aus Schnaps besteht, den ich euch in neunzig Prozent aller Fälle besorge?"

Drohend baute sein Vater sich vor ihm auch und stieß ihn unsanft gegen die Wand.

Harry konnte die kühle Mauer an seinem Rücken spüren.

„Du bist ganz schön frech geworden", stellte er mit unterdrücktem Zorn fest. „So haben wir dich nicht erzogen."

„Stimmt", pflichtete Harry ihm bei, „Ihr habt mich gar nicht erzogen."

Dieses Mal folgte ein Tritt in die Magengrube, der ihn in die Knie zwang.

Scharfer Schmerz durchfuhr Harry's Oberkörper.

Er hustete, und er konnte spüren, wie ihm übel wurde.

„Jetzt hör schon auf", flehte Anne unter Tränen vom Sofa, während sie sich schwankend aufrichtete. „Er hat das sicher nicht so gemeint. Nicht wahr, Harry?"

Er reagierte nicht auf ihre Frage.

Er hatte damit zu tun, sich wieder aufzurichten, während er nur noch gekrümmt stehen konnte.

Sein Magen schmerzte, so sehr, dass er sich nicht vollständig aufrichten konnte.

„Verzieh dich in dein Zimmer", verlangte sein Vater wütend und deutete auf den gegenüberliegenden Raum. „Und tritt mir so schnell nicht mehr unter die Augen."

Harry schleppte sich wortlos in den unordentlichen Raum, der eigentlich nur eine Abstellkammer war.

Noch nicht einmal ein richtiges Bett hatte er.

Lediglich eine Matratze.

Auf dieser ließ er sich nieder und kramte in seinem Rucksack nach seinem Spritzbesteck.

Er wollte sich ohnehin gerade einen Druck setzen, damit sein Körper nicht auf die Idee kam, ihn am Weihnachtsabend mit Entzugserscheinungen zu quälen.

„Frohe Weihnachten, Harry", murmelte er zu sich selbst, bevor er abdrückte.

Dann überwältigte ihn die Müdigkeit des Heroins, legte ihren milchigen Schleier wie eine Decke auf ihn und schloss seine Augen.
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Meine Lieben,
ich wünsche euch einen schönen Start ins Wochenende.🤍
Was denkt ihr, wie es weitergehen wird?
Kleiner Tipp: Es ist wahrscheinlich nicht so, wie ihr denkt😉🤍

All the love,
Helena xx

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt