o1. Sie haben mein Telefon gefunden

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Louis


Ein Ächzen, ein tiefes Seufzen, ein leichtes Stöhnen. er fuhr sich durch das gewaschene Haar und bestellte ein Glas Sekt. Louis war bester Laune - der Termin war bestens verlaufen, und somit war ihm der Auftrag fast sicher, den er an Land ziehen sollte. Dass das nicht einfach gewesen war, konnte man sich vermutlich ausmalen - aber geschafft hatte er es trotzdem. Soweit war also alles gut verlaufen. Ein kleines Glas Sekt hatte er sich seiner Meinung nach also definitiv verdient.

Während er in seiner Tasche nach seinem Telefon kramte, fiel ihm die Zeitung wieder ins Auge, die er von dem obdachlosen Jungen in der U-Bahn gekauft hatte. Er kannte seinen Namen nicht, deshalb entschloss er sich dazu, ihn fortan nur noch den obdachlosen Jungen zu nennen. Das beschrieb ihn schließlich am besten, denn seine Heimatlosigkeit war ihm deutlich anzusehen gewesen.

Louis legte das Magazin auf den Tisch und entschloss sich dazu, es zu lesen. Es konnte ja nicht schaden zu sehen, was darin stand. Schließlich hatte er auch dafür bezahlt. Deshalb stand ihm ein Blick hinein doch auch zu, oder etwa nicht?

Spätestens nach den ersten Seiten wurde ihm unmissverständlich klar, dass es sich hierbei um ein Obdachlosenmagazin handelte. Louis rollte beide Augen und nahm einen Schluck Wasser. Weshalb um alles in der Welt trug er diese Zeitschrift mit sich herum? Und was noch viel schlimmer war: Weshalb las er sie überhaupt?

Diese Frage stellte er sich während der nächsten fünf Minuten ziemlich oft, auch wenn er sie eigentlich längst kennen müsste. Es interessierte ihn, sehr sogar, aber eingestehen wollte er sich das selbst nicht. Aus diesem Grund redete er sich einfach ein, dass er sein Geld nicht verschwenden und das lesen wollte, wofür er es ausgegeben hatte. Dass das nämlich der Fall gewesen war, konnte er nicht bestreiten. Alles andere schon.


Sein Herz blieb beinahe stehen, als er etwa in der Mitte des Heftes angekommen war. Louis zwinkerte einen Moment lang, nahm einen Schluck Wasser und las die Überschrift ein weiteres Mal. „Heroin hat mein Leben zerstört."

Darunter ein Bild des Jungen aus der U-Bahn. Er erkannte ihn ganz genau wieder, das Gesicht war exakt das gleiche.

Im Endeffekt kann ich nur sagen, dass ich dem Heroin wegen auf der Straße gelandet bin.

Er zog beide Augenbrauen nach oben. Der Junge war Drogenabhängig gewesen? Oder entstand dieser Eindruck nur auf den ersten Blick?

Alles fängt doch immer irgendwie an. Mit nur ‚einem einzigen Mal', bei dem es am Ende dann auch bleiben sollte. Aber darf ich euch etwas sagen? Es bleibt nie bei dem einen Mal. Es geht immer weiter. Es hört nie auf.

Louis schüttelte entgeistert seinen Kopf. Die Bildunterschrift verriet ihm, dass sein Name Harry, und dass er vor zwei Wochen neunzehn geworden war. Ein zartes Alter für einen Heroinabhängigen, schoss es ihm durch den Kopf, als seine Augen sich beinahe von selbst wieder an die Zeilen hefteten.

Oh Gott, es hat so wehgetan. Der Moment, in dem ich bemerkt habe, dass ich mir selbst nicht mehr helfen kann. Aber wenn ich selbst das nicht kann, wer kann das dann? Obwohl ich mittlerweile clean lebe und alles dafür geben würde, ein normales Leben führen zu können, verfolgt meine Vergangenheit mich bis in meinen Schlaf. Jeder, der auch nur ansatzweise mit dem Gedanken spielt, Heroin ‚auszuprobieren' ist ein bodenlos dummer Trottel, dafür, dass er sich das selbst antun möchte.

Obwohl er diesen Gedankengang noch nicht einmal bestreiten wollte, würde er diese Menschen nicht als bodenlos dumme Trottel bezeichnen, sondern als nicht aufgeklärt. Er kannte genug junge Leute in seinem Alter, die mit illegalen Substanzen experimentierten. Louis selbst gehörte definitiv nicht dazu.

Man sollte sich ganz genau überlegen, ob man sein Leben auf diese Art und Weise wegwerfen möchte, denn nichts anderes ist es. Taub zu sein, und dafür mit seinem Leben bezahlen.

Er hatte recht. Im Endeffekt war das genau die Einsicht, die vielen fehlte, wenn sie anfingen, Drogen zu nehmen. Er selbst hatte genug Freunde, die ihre Gesundheit so leichtfertig auf's Spiel setzten. Dass er den Drang dazu nie nötig gehabt hatte, lag wohl an seinem Elternhaus. Er war sehr behütet aufgewachsen.

Manche fragen sich vielleicht, warum ich so große Reden schwinge und selbst abhängig war, oder es noch bin. Aber im Nachhinein ist man doch immer schlauer, oder nicht? Wäre ich mir damals über die Folgen bewusst gewesen, hätte ich niemals auch nur eine einzige Spritze angerührt. Nicht ein einziges Mal. Noch nicht einmal eine Zigarette hätte ich mir angesteckt!

Louis seufzte. Zigaretten. Eine legale Einstiegsdroge, die wohl nie aus der Mode zu kommen schien. Das war ihm klar, denn er selbst hatte auch hin und wieder eine Schachtel mit dem kostbaren Tabak in der Tasche.

Ich glaube wohl nicht, dass ich extra erwähnen muss, dass ich erst angefangen habe zu rauchen und zu trinken, bevor ich auf härtere Drogen umgestiegen bin. Bei jedem fängt es doch so an, oder etwa nicht? Niemand ist vom Anfang seiner Drogenkarriere an Heroinabhängiger. Und das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Louis schüttelte seinen Kopf und klappte das Magazin zu. Er konnte den Bericht nicht am Stück fertig lesen, es machte ihn fertig, das zu sehen. Nicht, weil ihn das Schicksal dieses Obdachlosen so sehr berührte, sondern weil er ganz genau wusste, dass vielen seiner Freunde das gleiche Schicksal blühen könnte.

Möglicherweise sogar ihm selbst? Nun, da er wusste, wie all das enden konnte, war die Gefahr vielleicht kleiner, aber seine Freunde hatten keine Ahnung von all den Dingen, die dieser Harry in diesem Artikel veröffentlichte.

Ein tiefer Atemzug und einen Schluck Wasser später, versuchte er erneut, sein Telefon in der Tasche zu finden, die er seit Stunden mit sich herumtrug. Aber Fehlanzeige: Egal, wie gründlich er suchte, egal, welche Fächer er öffnete, es blieb verschwunden. Und dass er langsam begann, in Panik zu geraten, war vermutlich überflüssig zu erwähnen.

Louis winkte einen Kellner zu sich und bat ihn um ein Telefon, das er ihm sogleich entgegenhielt. Dass er seine Telefonnummer auswendig konnte, war sein einziges Glück.

Möglicherweise hatte er es nur in irgendein Fach gesteckt, von dem er jetzt nichts mehr wusste. Aber nichts. Die Gegend um ihn herum blieb still. Sein Telefon blieb verschwunden.

Umso größer war der Schock darüber, dass sich plötzlich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. „Ja?"

Louis zog beide Augenbrauen nach oben. Diese Stimme erkannte er sofort wieder.

„Harry?"

„Ja?"

„Sie haben mein Telefon gefunden."

„Nein", er klang, als würde er seinen Kopf schütteln. „Sie haben es in der Bahn liegen lassen und ich wollte es im örtlichen Fundbüro abgeben."

Er zog beide Augenbrauen nach oben. „Im Ernst?"

„Ja."


Louis seufzte. „Na, dann können Sie es mir ja jetzt persönlich zurückgeben."

Sempiternal (Larry Stylinson)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt